Was mich fertig macht, ist nicht das Leben, sondern die Tage dazwischen (German Edition)
dem Vorfall zu unterrichten, als es mir zuvorkommt und losklingelt. Ich bleibe sitzen und warte. Nichts passiert. Nach dem dritten Klingeln weiß ich, dass Vivi nicht zu Hause ist.
Ich gehe ran.
»Ja?«
»Spreche ich mit Tacheles von MoM?«, fragt eine Männerstimme.
Im Hintergrund dudelt Silikonmusik.
»Ja.«
»Hier ist Martin Schwede von Radio live. Ich würde gerne ein kurzes Telefon-Interview machen.«
»Prima. Wann denn?«
»Jetzt. Wir gehen gleich live drauf, okay? Sobald du Ja sagst, unterbreche ich die Musik.«
»Alleine dafür lohnt es sich schon.«
Er lacht. Die Musik wird runtergefahren.
»Am Telefon habe ich Tacheles, den Sänger der Band Männer oder Mäuse? , die heute Abend im E-Werk spielt. Tacheles, eure Plakate sind mit dem Zusatz: ›Ausverkauft!‹ versehen worden. Jetzt passen ins E-Werk an die zweitausend Leute rein, und Männer oder Mäuse? ist noch keine allzu bekannte Band. Gibt es tatsächlich keine Karten mehr, oder ist das nur ein Promotiongag?«
»Danke. Nein, kein Promotiongag. Der Vorverkauf läuft so gut, dass tatsächlich die Gefahr besteht, dass einige Leute draußen bleiben müssen.«
»Wie erklären Sie sich die plötzliche Nachfrage?«
»Nun, wir glauben, dass sich alle Kneipenbesitzer der Stadt zusammengetan und die Karten aufgekauft haben, damit wir nach dem Auftritt unsere Deckel bezahlen können.«
»Oh ... Haha, verstehe, sehr gut ...«
»Und außerdem verstehen es immer mehr verantwortungsbewusste Mitbürger als ihre soziale Pflicht, auch so genannte kleinere Bands zu unterstützen. Sie sehen den Besuch solcher Veranstaltungen als persönliche Präventivmaßnahme gegen den Verfall unserer Gesellschaft in der heutigen Zeit ...«, sülze ich ihn voll. »Aber eben auch als Vorsichtsmaßnahme. Kurz gesagt: In der Zeit, wo wir auf der Bühne stehen, können wir draußen keine Scheiße bauen.«
»Äh, haha ... Äh, wollen Sie damit andeuten ...«
»Was ich sage, ist, dass jeder, der ein Livekonzert besucht, sein Zweitbestes dazu tut, dass die Möglichkeiten erhalten bleiben, frei lebende Künstler auf kleinen Bühnen live und aus nächster Nähe zu sehen und die künstlerische Demokratie am Leben zu halten.«
»Äh, ja. Sie sagen das Zweitbeste, was wäre denn das Beste?«
»Selbst aufzutreten.«
»Tacheles, ich wünsche dir und der Band Männer oder Mäuse? , kurz MoM , hahaha, heute Abend viel Glück im fast ausverkauften E-Werk und jedem Hörer von Radio Live, dass er noch eine Karte ergattern kann.«
»Kann ich noch etwas loswerden?«
»Äh ...«
»Studenten und Sozialhilfeempfänger brauchen an der Abendkasse nur die Hälfte zu bezahlen. Dafür wird jeder, der mit einem Auto vorfährt, das weniger als fünf Jahre alt ist, gebeten, freiwillig das Doppelte zu bezahlen. Wir wollen damit ein Paradebeispiel für soziale Marktwirtschaft schaffen.«
»Äh, interessant, danke für das Gespräch.«
Klick! Die Leitung ist tot. Was habe ich da wieder angerichtet?
Während ich noch darüber nachdenke, klingelt es wieder. Ich gehe ran.
»Die Gästeliste ist voll.«
»Ja, hallo, sehr witzig. Ich hab dich eben im Radio gehört.«
»Die Gästeliste ist voll.«
»Nein, ich bin neu in der Stadt, also ich meine, ich bin Komiker und hätte Lust, für euch den Warm-up zu machen.«
Endlich mal eine neue Masche, um auf die Gästeliste zu kommen.
»Komiker, so, so, na, dann erzähl doch mal einen Witz.«
»Wie böse darf’s denn sein?«
»Böse.«
»Was ist der Unterschied zwischen den Nazis und der Musikindustrie?«
»Na?«
»Die Nazis hatten eine Vision.«
Ich atme tief durch.
»Du wirst doch nicht etwa selber einer sein?«
»Natürlich nicht.«
»Sicher?«
»Dieser Witz ist doch nur Mittel zum Zweck.«
»Das war das Dritte Reich auch«, erinnere ich ihn.
Pause.
»Na, also gut«, sage ich. »Aber mach’s ’ne Nummer weicher. Die harten Dinger kannste anschließend bei der Backstageparty loswerden.«
»Bedeutet das, ich bin dabei?«
»Yep, Soundcheck um sechs. Komm ein bisschen früher, damit wir das Ganze mit den Technikern abklären können. Noch Fragen?«
»Was zahlt ihr?«
»Der war gut«, sage ich und lege auf.
22. Anpfiff
D er Soundcheck war große Klasse. Der Ton ist gut, das Licht ist noch besser, und die Haus-Crew schwebt, denn eben haben wir uns gemeinsam in der Glotze angeschaut, wie der FC mit einem seiner seltenen Siege die Abstiegsgefahr gebannt hat. Unter diesen Aspekten fällt es kaum ins Gewicht, dass der Verlagsmensch durch
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