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Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung

Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung

Titel: Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anke Richter
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was ist mit der Menschenfresserei?«
    »Maori haben seit dem 19. Jahrhundert keinen Kannibalismus mehr praktiziert«, sagt Haki. Dann grinst er. »Aber bei den Deutschen ist das noch nicht so lange her. Da war doch dieser Kannibale aus Rotenburg, der das beste Stück seines Freundes verspeist hat, richtig?«
    Ich glaube, er schaut in meine Richtung. Alle lachen. Mir wird plötzlich sehr warm. Haki nimmt sich einen Stuhl und lässt seinen schweren Körper darauf sinken.
    »Lasst mich euch noch eine Gutenachtgeschichte erzählen«, sagt unser Lehrmeister. Ich greife mir meinen Block und schreibe mit.
    »Es war einmal ein Land mit wunderbaren Bräuchen. Sonntags aßen die Menschen Roastbeef. Sie trugen Jeans, gingen zur Kirche, schickten ihre Kinder auf die Universität. Alle lebten in festen, gezimmerten Häusern und hörten Popmusik. Eines Tages kamen Kanus übers Meer. Die Männer darin gingen an Land, guckten sich um und sagten sich: ›Bringen wir ihnen eine richtige Sprache bei. Zeigen wir ihnen, wie sie Jäger und Krieger werden können. Wir brennen ihre Kirchen nieder und bauen stattdessen Marae. Wir zerstören ihre Autos und geben ihnen Kanus. Statt Roastbeef können sie Käferlarven essen. Wir nehmen ihnen alles, aber sie dürfen monatliche Rock-’n’-Roll-Aufführungen abhalten. Die bezahlen wir.‹«
    Auf den Matratzen wird leise gemurmelt. Ein paar Leute lachen anerkennend. Vivien sieht gleichzeitig nachdenklich und verlegen aus. Shane zupft leise auf seiner Gitarre. Eva hat bisher noch nichts gesagt. Sie wirkt müde. Der Crashkurs nimmt uns alle mit. Außerdem ist Eva seit gestern komisch zu mir, weil Angie mich fragte, ob Eva was von Haki will, und ich das wiederum Eva erzählt habe. Angie fand das alles lustig, aber Eva nicht.
    »Na, und was ist die Lösung?«, fragt Haki rhetorisch. »Die Kolonialisten ins Flugzeug setzen und zurück in ihr Ursprungsland jagen? Nun, dann müsst ihr mich auf halber Strecke unterwegs abwerfen, denn ich habe auch schottisches Blut in meinen Adern. Außerdem mag ich Hokey-Pokey-Eis lieber als Käferlarven.«
    Ein befreites Kichern geht durch die Reihen. Shane spielt einen kleinen Akkordtusch. Haki Waiomio klappt die Tafel zusammen.
    »›Der Mensch verschwindet, das Land bleibt.‹ Ein letztes Wort von euch, bevor das Licht ausgeht?«
    Er hält den Talking Stick in unsere Richtung. Eva hebt den Kopf zwischen ihren verschränkten Armen hervor und steht auf. Sie zieht ihre Strickjacke fester um sich. Etwas unsicher stakst sie über die Schlafsäcke nach vorn und greift nach dem Stock. Ihre Augen haben Schatten und rote Ränder, so als ob sie leise geweint hat.
    »Niemand von euch trägt die Schuld für die letzten 150 Jahre«, spricht sie in den Saal. Ihre Stimme ist tapfer und zittert, ihr Akzent sperriger denn je. »Aber ihr könnt die Zukunft besser gestalten. Ich will alles tun, um das Unrecht der Kolonialisierung gutzumachen. Ab heute nenne ich mich Aroha. Das bedeutet Liebe.«
    Soll ich stolz sein auf diese Geschwister-Scholl-Einlage? Mich auch umtaufen, um sie moralisch zu unterstützen? Wenn ich ehrlich bin, schäme ich mich für Evas überbordende Betroffenheit. Bei aller Aroha – aber ihre Maori-Mutation wird langsam bedenklich.
    Der samoanische Zwischenrufer reißt mich aus der Verlegenheit. Er springt auf und nimmt seine Baseballkappe vom Kopf. Jetzt sehe ich, dass er sich den Schädel frisch rasiert hat. Der junge Polynesier zeigt auf die helle Stelle auf seinem Kopf und gluckst vor Albernheit.
    »Und ich will meine weiße Seite zeigen!«, ruft er.
    In meinem nächsten Leben möchte ich Südseeinsulaner sein.

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    Blau blüht der Enzian
    ›GROßVATER – EGON, Großmutter – Käthe‹, schreibe ich auf und male eine Linie aufs Papier. ›Urgroßvater –?‹ Noch ein Strich. Dann sitze ich ratlos davor. Als letzte Aufgabe der Woche müssen wir unser Whakapapa, den Stammbaum, bestimmen. Das soll uns helfen, unsere Wurzeln zu begreifen. Bei einer traditionellen Begrüßung gehört es sich, dass man sich in fließendem Maori nicht nur mit seinem Namen, sondern mit seinem Berg oder Fluss vorstellt. Genealogie ist alles in der Maori-Kultur. »Wenn du nicht weißt, woher du kommst, weißt du nicht, wer du bist«, hat uns Haki Waiomio gepredigt. »Jeder Maori muss sein Whakapapa kennen.«
    »Fuck-a-Papa?«, war der Kommentar von Viviens Freund dazu, den aber nur Vivien witzig fand. ›Wh‹ wird auf Maori wie ›F‹

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