Was sich kusst das liebt sich
empfunden hätte, erschien ihr nun wie eine Stagnation. Es kam ihr so vor, als würde sie auf der Stelle treten, obwohl es sie vorwärtsdrängte. Der einzige Lichtblick war der Tag, an dem sie Mein Tanz am Rand der Welt samt ihrem (von Chloe, Rose und Philip abgesegneten) Exposé an Jacob Morrison schickte. Als Neve das Paket einem Postbeamten überreichte, nahm sie si ch fest vo r, das Thema vorerst aus ihren Gedanken zu verbannen.
Dann war da die Aussicht auf einen Samstagabend ohne Max, die ihr höchst befremdlich vorkam, war er doch in den vergangenen Wochen ein fixer Bestandteil ihrer Samstagabende geworden. Als sie Gustav nachmittags erzählte, dass sie noch nichts vorhatte, lud er sie ein, mit ihm und seinem Freund Harry essen zu gehen, was immer eine besondere Ehre war.
Es war ungewöhnlich, Gustav nicht in Sportklamotten zu sehen, obwohl er auch in seiner Freizeit ausschließlich Schwarz trug. Sein stets gut gelaunter Freund Harry war ein strammer australischer Hüne, der Gustav mit dem Zeigefinger drohte, wann immer sich dieser ganz offensichtlich ausmalte, wie er dafür sorgen würde, dass Neve jede einzelne der soeben konsumierten Kalorien wieder herunterschwitzte.
Das Beste an einem Abend mit Gustav und Harry war jedoch, dass es Harry stets gelang, Gustav abzufüllen (was nicht weiter schwer war, da Gustav noch weniger Alkohol vertrug als Neve), und dass Gustav sehr lustig wurde, wenn er betrunken war. Als Harrys Nachtisch– mit drei Löffeln– serviert wurde, hatte Gustav den Kopf an Neves Schulter gelehnt und tätschelte ihr zum wiederholen Male onkelhaft die Brust, obwohl sie ihn schon mehrfach aufgefordert hatte, das zu unterlassen.
» Wenn ich nicht homosexuell wäre, würde ich dich noch viel mehr lieben als ohnehin schon, Neve«, versicherte er ihr und vergrub das Gesicht in ihrer Halsbeuge. » Du erinnerst mich an meine Mutter«, worauf Harry in schallendes Gelächter ausbrach.
» Ach, Schätzchen, das macht dich doch bestimmt unheimlich stolz«, keuchte er schließlich, während Neve zu verhindern versuchte, dass ihr Gustav auf das Kleid sabberte, das nur chemisch gereinigt werden durfte.
» Gustav! Wenn du nicht sofort aufhörst, esse ich Harrys Schoko-Karamell-Kuchen ganz allein auf«, drohte ihm Neve, erntete aber bloß ein zufriedenes Schniefen.
» Du riechst immer so gut«, lallte Gustav. » Sogar, wenn du total verschwitzt bist.«
» Ich glaube, es ist an der Zeit, dieses Leichtgewicht ins Bett zu stecken«, stellte Harry fest, und Gustav grinste Neve vielsagend an.
» Harry liebe ich auch«, vertraute er ihr an. » Er hat einen riesigen Penis.«
Neve lachte noch immer, als sie Harry dabei half, Gustav auf die Rückbank eines Taxis zu verfrachten. » Das merke ich mir, und ich werde es jedes Mal erwähnen, wenn du von mir verlangst, dass ich Hampelmänner mache«, sagte sie zu Gustav, der den Kopf ermattet auf die Rücklehne sinken ließ und ihr Luftküsschen schickte, bis das Taxi anfuhr.
Und dann stand sie allein mitten auf der Old Compton Street. Es war Samstagabend, neun Uhr, und obwohl sie wusste, dass Charlotte auf einem Junggesellinnenabschied in Brighton war, hatte Neve keine Lust, nach Hause zu fahren.
Max hätte ihr jetzt garantiert ein halbes Dutzend Lokalitäten nennen können, an denen eine Party stieg, aber er hatte schließlich nicht das Spaß-Monopol. Sie marschierte die Rolltreppe der U-Bahn-Station Leicester Square hinunter und begab sich in einem Anfall von Verwegenheit auf den Bahnsteig, von dem die Bahnen Richtung Süden abfuhren. Chloe gab mit ihrer Band, den Fuck Puppets, ein Konzert in Brixton, und obwohl Neve sonst unter allen Umständen versuchte, kreischenden Gitarren und dem Süden von London fernzubleiben, beschloss sie, dass sie heute ausnahmsweise beides ein paar Stunden aushalten würde.
» Du meine Güte, haben sie dich an der Grenze aufgehalten?«, ätzte Chloe, als sie Neve in der Schlange vor dem Klub entdeckte. Dann drückte sie sie einmal kräftig an sich. » Ich lasse dich gleich auf die Gästeliste setzen.«
Es war ein unheimlich gutes Gefühl, einfach so, ganz spontan auf einem Gig (einem Gig!) aufzukreuzen, und der Adrenalinschub, den sie seit ihrer tollkühnen Entscheidung verspürte, hielt den ganzen Abend an, obwohl die Songs der Fuck Puppets praktisch nur aus kreischenden Gitarrensoli bestanden und ihr jemand seinen Drink über das Kleid kippte. Das Publikum setzte sich aus einer seltsamen Mischung aus Emo-Kids und jungen
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