Was sie nicht weiss
wahrscheinlich wieder in grauer Frühe durch die Gegend gerannt, was? Ich versteh wirklich nicht, was dich daran reizt!«, ereifert Tessa sich nun.
»Ich jogge gern, das weißt du. Wenn ich längere Zeit aussetze, bekomme ich schlechte Laune.«
»Na, ich hätte eher schlechte Laune, wenn ich jeden Morgen um sechs aufstehen müsste. Und dann auch noch rennen vor dem Frühstück! Es ist mir rätselhaft, wie du das durchhältst. Und dann geht dein Dienst immer so lange, man erreicht dich ja kaum zu Hause. Da dachte ich, wenn ich ganz früh anrufe, haben wir Zeit, ein bisschen zu reden.«
»Tut mir leid, aber so ist es nun mal. Heute wird es bestimmt auch wieder spät.«
»Schick mir eine SMS , wenn du zu Hause bist. Ich hab da nämlich so ein Schreiben bekommen. Es geht um Mamas Grab, um die Gebühren. Wir müssen darüber reden.«
»Hat das nicht Zeit?«, sagt Lois. »Die nächsten Tage bin ich sehr eingespannt.«
»Nein, hat es nicht! Es sei denn, du willst, dass das Grab demnächst geräumt wird. Wenn nicht, müssen wir die Ruhe frist um weitere zehn Jahre verlängern.«
»Das machen wir natürlich.«
»Ich weiß nicht recht, es kostet doch eine ganze Menge Geld.«
»Hör auf damit, Tessa! Wer hat denn den ganzen Champagner auffahren lassen?«, sagt Lois. »Ich muss mich jetzt beeilen, wir reden ein andermal weiter.«
Kopfschüttelnd beendet sie das Gespräch. Manchmal ärgert das Gerede ihrer Schwester sie so sehr, dass sie sich nur mühsam beherrschen kann.
Im Eiltempo duscht sie und zieht sich dann an.
Bevor sie die Wohnung verlässt, blickt sie kurz zum Foto ihrer Mutter, das in einem Silberrahmen auf der Kommode steht. Sie wirft ihm eine Kusshand zu, dann schließt sie die Tür hinter sich.
Der Samstag beginnt mit einer Besprechung. Am Whiteboard hängen Fotos vom Tatort und mehrere Großaufnah men der Leiche. Links hat Ramon mit Filzstift alle bekannten Fakten notiert, rechts die – wesentlich zahlreicheren – offenen Fragen.
Die Besprechung dauert nicht lange, da viel Arbeit anliegt. Hooglands Eltern wurden noch am Vorabend von Claudien und Nick über den Tod ihres Sohns informiert, und weil sie völlig am Boden zerstört waren, ist das ausführliche Gespräch mit ihnen auf heute verschoben worden. Lois ist froh, dass ihr diese Aufgabe erspart geblieben ist, obwohl sie gelernt hat, derartige Situationen nicht zu sehr an sich herankommen zu lassen.
Fred und sie wollen als Erstes die Rektorin der Grundschule aufsuchen, an der David Hoogland tätig war. Da samstags kein Unterricht stattfindet, haben sie sich die Privatanschrift in Heerhugowaard beschafft.
»Die Leute, bei denen der kleine Sem jetzt ist, wohnen auch in Heerhugowaard«, sagt Lois unterwegs wie nebenbei. Nach dem Traum der letzten Nacht muss sie schon den ganzen Morgen an ihn denken.
Fred wirft ihr einen Seitenblick zu. »Woher weißt du das?«
»Ich hab vorhin in der Akte nachgesehen. Der Bruder, Maarten Veenstra, hat ihn aufgenommen, das heißt, er und seine Familie. Sie wohnen gar nicht weit von der Rektorin entfernt.«
Schweigend fährt Fred weiter und biegt dann von der Schnellstraße ab. Erst als sie die enge Abfahrt hinter sich gelassen haben und wieder auf gerader Strecke sind, sagt er: »Du möchtest hin, stimmt’s?«
»Ganz kurz. Nur mal sehen, wie es dem Kleinen geht.«
»Claudien meinte, er sei dort gut untergebracht. Die Kinder des Bruders und seiner Frau, ein Mädchen und ein Junge, seien in seinem Alter, und mit Onkel und Tante habe er sich immer gut verstanden.«
»Mag sein, aber ich würde mich gern selber davon überzeugen.«
»Was willst du zu dem Jungen sagen?«
»Nichts eigentlich. Ich will ihn nur sehen und ein paar Worte mit seinem Onkel reden.«
»Wäre es nicht besser, du verschiebst das auf später?«, schlägt Fred vor. »Es ist alles noch so frisch.«
»Gerade deswegen. Ich hab letzte Nacht kaum ein Auge zubekommen. Vielleicht hilft es mir, wenn ich weiß, dass man sich gut um den Kleinen kümmert.«
»Na denn …« Fred deutet auf das Navi. »Gib die Adresse ein. Aber wir bleiben nicht länger als zehn Minuten.«
Ein wenig länger dauert der Besuch aber doch, obwohl sie Chantal Veenstras freundliche Einladung zum Kaffee ausschlagen. Anfangs wirkt die Frau nervös, doch das gibt sich, als sie merkt, dass Lois’ Interesse ehrlich gemeint ist.
»Sem schläft«, sagt sie. »Die Tabletten, die Richard ihm gegeben hat, wirken noch nach. Wollen Sie ihn sehen?«
»Nicht unbedingt«, erwidert
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