Was sie nicht weiss
vergeblichen Versuch, über Claudiens Schulter zu spähen, gibt Sonja auf und bequemt sich zu einer Antwort.
»Nicht viel. Ich hab sie nicht näher gekannt, war beispielsweise nie bei ihr zu Hause oder so. Aber manchmal sind wir ein Stück zusammen geradelt, weil wir den gleichen Heimweg hatten und …«
»Wo hat sie gewohnt?«, unterbricht Claudien.
»Keine Ahnung. Ich war ja nie bei ihr zu Hause, das hab ich doch gesagt.«
»War sie an der gleichen Schule wie Sie?«, fragt Lois.
»Nein, und ich weiß auch nicht, auf welche Schule sie ging. Wahrscheinlich hat sie’s mal erwähnt, aber das hab ich vergessen.«
»Und sonst?«
»Tja … sie war klein und schlank, schulterlanges braunes Haar und ein Gesicht wie ein Model, richtig hübsch. David war damals in sie verknallt, aber sie stand nicht auf großspurige Typen wie ihn. Ein Mal hat sie ihn grandios versetzt: Sie wollte mit ihm zum Schulball gehen und ist dann einfach nicht aufgetaucht. Das hätte er echt verdient, meinte sie später, weil er ein arrogantes Arschloch sei und Mädchen nur als Trophäen betrachte. Vielleicht war da sogar was dran, denn irgendwann gab’s mal ein Gerücht, er habe ein Mädchen vergewaltigt.«
Lois horcht auf. »Tatsächlich? Hat es denn gestimmt?«
»Woher soll ich das wissen? Ich hab ja nicht danebengestanden … falls er es überhaupt getan hat. David hatte so was eigentlich nicht nötig, er sah gut aus und hätte an jedem Finger zehn haben können.«
»Aber dieses eine Mädchen, in das er verliebt war, hat ihn versetzt. Mit wem war sie sonst zusammen, wer waren ihre Freundinnen?«, fragt Lois.
Sonja zuckt die Schultern. »Ich glaube nicht, dass sie viele Freundinnen hatte. Sie hat oft und gern gezeichnet und konnte das auch richtig gut. Zu Hause hatte sie’s wohl nicht leicht. Ihre Eltern waren tot, und sie wohnte bei ihren alten Großeltern, die ihr so gut wie nichts erlaubten.«
Lois und Claudien tauschen einen schnellen Blick.
»Hieß das Mädchen zufällig Maaike?«, fragt Lois gespannt.
»Genau!« Jetzt strahlt Sonja regelrecht. »So hieß sie: Maaike. Maaike Scholten!«
18
»Maaike ist im Kunstverein«, sagt die Frau mit dem dunklen kurzen Haar, die ihnen an der Verdronkenoord die Tür geöffnet hat. Sie macht einen sanften, freundlichen Eindruck, mustert Lois und Claudien jedoch mit scharfem Blick. »Ich heiße Daniela Amieri und bin Maaikes Freundin und Galeristin. Worüber wollen Sie mit ihr reden?«
»Das würden wir gern mit Frau Scholten selbst besprechen«, erwidert Claudien. »Das heißt, ein paar Fragen haben wir auch an Sie. Dürfen wir reinkommen?«
Daniela zögert. »Ich weiß nicht, ob es Maaike recht ist, wenn ich Fremde in ihre Wohnung lasse. Ach, egal – treten Sie ein.«
Den ganzen Tag schon ist der Himmel grau und schwer bewölkt, so als könnte es jeden Moment zu regnen anfan gen, aber nicht nur deswegen ist Lois froh, ins Haus zu kom men. Beim ersten Mal hat sie sich nicht gründlich genug umgesehen; das lässt sich nun nachholen.
Die Nacht war wieder kurz, und schlecht geschlafen hat sie auch. Am liebsten hätte sie Maaike sofort nach dem Gespräch mit Sonja de Nooij aufgesucht, aber so spät war natürlich nicht daran zu denken. Also ist sie gleich nach der morgendlichen Besprechung mit Claudien aufgebrochen.
Kaum haben sie die Speicheretage betreten, ist Lois wie der von dem riesigen Raum mit den hohen Fenstern und der prachtvollen Aussicht fasziniert, doch diesmal schaut sie nur kurz raus.
Daniela hat am Esstisch Platz genommen und bedeutet ihnen, sich ebenfalls zu setzen, aber nur Claudien kommt der Aufforderung nach. Lois bleibt stehen und sieht sich um. Danielas Blick ist anzumerken, dass ihr das ganz und gar nicht behagt. Während Claudien sich nach ihrer Zusammenarbeit mit Maaike Scholten erkundigt, geht Lois auf und ab.
Trotz seiner Größe wirkt der Speicher übervoll und vor allem unaufgeräumt. Auf Kommoden und Beistelltischen liegen neben Ziergegenständen unzählige Zeitschriften, leere Kekspackungen und anderer Kram, und in einer Ecke sind, zwischen Staubmäusen, Bücher aufgetürmt. Ähnlich chaotisch wirkt der hintere Bereich, wo die Staffelei steht. Lois sieht einen langen rechteckigen Tisch, darauf ein Durcheinander aus offenen Farbtuben, Wassergefäßen mit Pinseln darin, zerknüllten Pommestüten, Tellern mit angebissenen Broten und einer fast leeren Weinflasche.
Sie schaut hinter den Paravent. Dort steht Maaikes Bett, ungemacht, daneben ein Hocker mit
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