Was sie nicht weiss
mehrmals bei Remco Leegwater geklingelt, doch er war nie zu Hause und auch telefonisch nicht erreichbar. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Ermittlungen bisher zu nichts Konkretem geführt haben.
Der einzige Vorteil besteht darin, dass Lois, weil es momentan ohnehin nicht vorwärtsgeht, am ersten Weihnachtstag freihat. Am liebsten würde sie den Tag nutzen, um gründlich auszuspannen. Sie wäre sogar einem gemütlichen Beisammensein im kleinen Kreis – mit Tessa, ihrem Mann und vielleicht noch zwei, drei guten Bekannten – nicht abgeneigt. Doch die Einladung auf cremefarbenem hand geschöpftem Papier verheißt etwas ganz anderes. Weihnach ten im Hause van Sevenhuysen bedeutet eine lange damast gedeckte Tafel, Kristallgläser, Wedgwoodporzellan und Tischkärtchen, sodass man sich nicht einmal die Sitznachbarn aussuchen kann. Keine Weihnachts- CD mit altbekannten Songs von Chris Rea und Mariah Carey, während man an Zimtsternen und Lebkuchen knabbert, sondern ein Streichquartett, das für mindestens dreißig Gäste zum Fünfgängemenü aufspielt.
Als Lois am Abend ihr Auto neben den Nobelschlitten der anderen Gäste geparkt hat, bleibt sie noch ein paar Mi nuten am Steuer sitzen und überlegt, ob sie nicht behaupten soll, bei ihrem Fall habe es einen unerwarteten Durchbruch gegeben und sie müsse leider, leider sofort aufs Revier. Aber letztlich bringt sie es nicht übers Herz, ihre Schwester zu enttäuschen.
Mit einem Seufzer steigt sie aus. Sie trägt das gleiche Kleid wie zu Guidos Geburtstagsfeier. Warum hätte sie sich auch extra für diesen Abend ein neues Outfit zulegen sollen? Zeit für einen längeren Einkaufsbummel hätte sie ohnehin nicht gehabt.
Vor der Villa, wo die Zufahrt in einen kiesbestreuten Platz übergeht, befindet sich ein Rasenrondell, auf dem sonst immer die Sonnenuhr steht. Jetzt prangt dort ein hoher, üppig geschmückter Weihnachtsbaum, dessen Lichterglanz den kurzen Weg bis zum Haus erhellt.
Vor der Tür trifft Lois einen, den sie schon kennt: Onno.
»Wie schön, Sie wiederzusehen!« Spontan küsst er sie auf beide Wangen. »Hoffentlich werden Sie heute nicht wieder weggerufen. Ich habe nämlich dafür gesorgt, dass Sie meine Tischdame sind, und Sie lassen mich doch hoffentlich nicht sitzen.«
»Die Gefahr ist nicht groß, aber versprechen kann ich nichts.«
Lois lässt sich aus dem Mantel helfen. Dass Onno ihr Tischherr sein wird, findet sie gut, auch wenn sie keine Ahnung hat, worüber sie sich mit ihm unterhalten soll. Zumindest scheint er weniger versnobt zu sein als Guidos restliche Sippe.
Im Living begrüßt sie Tessa und ihren Mann, bewundert den Weihnachtsbaum, der den im Freien an Pracht noch übertrifft, sowie den eigens für die Feier angeschafften Kronleuchter über der Tafel. Dann lässt sie sich vom Kellner einen Orangensaft als Aperitif geben.
»Du siehst müde aus.« Tessa mustert sie mit gerunzelter Stirn. »Ganz dunkle Ringe unter den Augen hast du!«
»Kann schon sein. Im Moment komme ich auf fast hundert Wochenstunden.«
»Geht es wenigstens voran?«, will Guido wissen.
»Leider kaum.«
»Ist es noch die gleiche Sache, wegen der du von meiner Geburtstagsfeier wegmusstest?«
Lois nickt.
»Ich nehme an, es geht um den Mord in Daalmeer«, sagt Onno. »Haben Sie schon einen Verdächtigen im Auge?«
»Tut mir leid, darüber darf ich nicht reden. Alles, was ich öffentlich sage, kann die Ermittlungen gefährden.«
»Also ist in nächster Zeit wohl nicht mit einer Festnahme zu rechnen. Typisch Polizei, nichts kriegen sie auf die Reihe. Entschuldige, Lois, aber das ist doch wahr. Unsere Steuergelder einsacken, das können sie jedoch. Ach, wen wundert’s bei diesem Staat, man könnte glatt …«
Bevor Guido sich weiter ereifern kann, legt Tessa ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Liebster, ich glaube, es ist Zeit für deine Rede. Die Gäste sind alle da.«
»Wie? Ach so … ja.« Zerstreut kramt Guido in seinen Taschen nach der Brille und setzt sie auf. »Wo ist mein Notizzettel?«
»Das kannst du doch ganz spontan machen. Du heißt einfach alle willkommen, und dann stoßen wir auf einen schönen Abend an.« Sie klopft mit ihrem Ring ans Champagnerglas.
Augenblicklich verstummt das Gemurmel, Tessa nickt ihrem Mann zu und tritt lächelnd einen Schritt zurück.
»Liebe Verwandte und Freunde«, beginnt Guido, und dann folgt eine lange Ansprache, in der er jeden Gast einzeln begrüßt und die Vorstellung mit einer Anekdote würzt. Bei Lois’ Namen
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