Was sie nicht weiss
vollauf.«
»Ich meine, Tessa hätte mal ein Landgut erwähnt.«
»Das gehört meinem Vater. Es ist auch wirklich schön und ziemlich alt, das Gutshaus stammt aus dem Jahr 1644. Aber das Ganze klingt romantischer, als es ist, denn solch ein Gebäude mit dem ganzen Grund, der dazugehört, ist kaum zu unterhalten. Deshalb haben wir den Park zu einer Ferien anlage mit Holzhäuschen und Tennisplätzen umfunktioniert. Mein Vater hatte gehofft, das würde genug abwerfen, aber leider war dem nicht so, und er musste auch das Haus für zahlende Gäste öffnen. Der größte Teil davon ist jetzt ein Hotel, und mein Vater bewohnt ein paar wenige Räume im Ostflügel. Seit dem Tod meiner Mutter allein.«
»Es ist ihm sicherlich nicht leichtgefallen zu akzeptieren, dass sich nun Fremde im Haus und im Garten aufhalten.«
»Nein, aber so ist es nun mal. Oder man muss verkaufen. Wir wollten, dass das Anwesen in Familienbesitz bleibt, also blieb uns keine Wahl.«
»Arbeiten Sie dort?«
»Ich nicht, aber meine Schwestern. Ich bin Psychiater.«
»Tatsächlich? Mit eigener Praxis?«
»Ich bin an einer Klinik in der Nähe von Bloemendaal angestellt und arbeite in der geschlossenen Abteilung.«
»Ist das nicht sehr hart, sich täglich mit den Problemen der Patienten auseinandersetzen zu müssen?«
»Nicht härter als Ihr Beruf, würde ich sagen. Und es gibt ja auch Tage, an denen man das Gefühl hat, etwas bewirken zu können.«
»Das geht mir genauso«, sagt Lois.
Ihr ist, als befänden sie sich unter einer Glasglocke, an der die Geräusche von außen abprallen, als wären sie allenfalls ein sanftes Hintergrundrauschen, wie man es am Strand hört.
Als die zweite Vorspeise – Garnelen mit Tabouleh, Va douvan-Mayonnaise und Wakame – auf den Tisch kommt, sind sie bereits beim Du und sprechen gerade über Lois’ ersten Einsatz bei einem Mordfall, der sie damals sehr mitgenommen hat. Noch heute fühle sie sich wie ein Eindringling, erzählt sie, wenn sie in der Wohnung eines Mordopfers Schränke und Schubladen nach persönlichen Gegenständen durchsucht.
Beim Hauptgericht – Hasenrückenfilet in Rotweinsauce – erzählt Onno von seiner Tätigkeit in der Klinik.
»Manchmal überkommt mich ein Gefühl der Ohnmacht«, sagt er, »vor allem, wenn Patienten so schlimme Dinge berichten, dass ich mich frage, ob ich da überhaupt helfen kann. Wenn ich dann aber ihren hoffnungsvollen Blick sehe, wird mir wieder klar, was meine Aufgabe ist, auch wenn die Verantwortung oft schwer auf mir lastet.«
»Da hilft nur, dass man sich distanziert. Jedenfalls, so gut es geht. Man darf das Leid nicht zu sehr an sich herankommen lassen.«
»Stimmt, und genau das versuche ich, so unsensibel es auch klingen mag. Ohne solch eine Abgrenzung könnte ich diese Art von Arbeit gar nicht machen. Ich nehme an, das ist bei dir ebenso.«
»Es ist die einzige Möglichkeit, sich selbst zu schützen«, sagt Lois. »Wenn ich vor einer Leiche stehe, blende ich meine Emotionen weitgehend aus. Sie holen mich später jedoch ein, wenn ich mich näher mit dem Fall befasse, mit Angehörigen spreche und immer mehr über das Opfer erfahre. Aber sie bestärken mich auch darin, diesem Menschen, den ich nur als Toten gekannt habe, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem ich dafür sorge, dass der Täter gefasst und bestraft wird. Das ist das Einzige, was ich noch tun kann.« Sie schweigt kurz, trinkt einen Schluck Evian und sagt leise: »Die vielen Überstunden, die schlaflosen Nächte, die Gefühle, mit denen man sich herumschlägt – all das ist es wert, wenn man vorankommt. Nichts ist schlimmer, als den Fall nicht zu lösen.«
23
Die Weihnachtstage gehen an Maaike völlig vorbei. Fürs Feiern hat sie nichts übrig, nie gehabt. Als Kind fand sie es scheinheilig, dass ihre Eltern an Heiligabend zum Gottesdienst gingen, obwohl sie sich das ganze Jahr über nicht an die Gebote hielten. Sie waren zwar nicht streng katholisch, wussten aber sehr gut, was »Du sollst keine Unzucht treiben« bedeutet. Und genau das tat ihr Vater.
Nach dem Unfall, bei dem ihre Eltern umgekommen waren, empfand sie außer Kummer auch Erleichterung. Mit ihrer Mutter hatte sie sich zwar nicht gut verstanden, dennoch trauerte sie um sie. Über den Tod ihres Vaters hingegen war sie froh.
Die Großeltern nahmen sie freundlich auf, obwohl sie mit der elfjährigen Enkelin im Grunde überfordert waren. Sie gaben sich redlich Mühe, aber wirklich zu Hause fühlte Maaike sich bei ihnen nicht. Sie
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