Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
Neurowissenschaftlern ergaben. Der Versuch dazu geht so: Eine Testperson sitzt vor einem Bildschirm, auf dem zwei Ziffern erscheinen, zum Beispiel eine 5 und eine 8. Die Person soll nun möglichst schnell entscheiden, welche der beiden Zahlen größer ist. Zwar können wir in wenigen Sekundenbruchteilen die Ziffer 5 von der Ziffer 8 unterscheiden und feststellen, dass die 8 eine größere Zahl repräsentiert. Versuchsreihen mit verschiedenen Zahlenpaaren ergaben jedoch sehr unterschiedliche Ergebnisse. Auf der Zahlenskala weiter auseinanderstehende Ziffern wie 2 und 9 können wir deutlich schneller voneinander unterscheiden als dicht beieinanderliegende wie 6 und 7. Ein weiteres Versuchsergebnis: Kleine Ziffern, etwa 2 und 3, sind leichter und schneller voneinander zu unterscheiden als größere wie zum Beispiel 8 und 9.
Die Distanz- und Größeneffekte unseres Zahlensinns kommen also unabhängig davon zum Tragen, ob es sich bei den zu vergleichenden Mengen um Äpfel oder abstrakte Ziffern handelt. Der Grund dafür: Das Gehirn kann die Information der abstrakten Zeichen garnicht direkt verarbeiten, sondern muss sie erst in analoge Größen übersetzen. Diese wiederum gehorchen eher den Faustformeln des Ungefähren, mit denen wir uns durchs Leben wurschteln, als den strengen Regeln der Mathematik.
Dehaene schreibt dazu: „Die Markierungen auf dem Maßstab in unserem Kopf, mit dem wir Zahlen vergleichen, haben nicht alle den gleichen Abstand voneinander, sondern größere Zahlen sind auf engerem Raum zusammengedrängt. Unser Gehirn stellt Größen ähnlich dar wie die logarithmische Skala eines Rechenschiebers, wo der Abstand zwischen 1 und 2 so groß ist wie der zwischen 2 und 4 und der zwischen 4 und 8. Deshalb nehmen die Genauigkeit und Geschwindigkeit, mit der Rechnungen durchgeführt werden, notwendigerweise ab, wenn die Zahlen größer werden.“
Der Zahlenstrahl im Kopf wird bei wachsenden Zahlen zu einer sich im Sande verlaufenden Spur, sobald wir das sichere Terrain von 1, 2 und 3 verlassen. In vielen Alltagssituationen folgen wir jedoch, ob bewusst oder unbewusst, den groben Wegmarkierungen des Zahlensinns und vertrauen auf unsere angeborene Fähigkeit, Quantitäten einigermaßen richtig abzuschätzen. Zwar hat die Präsenz und Bedeutung von exakten Zahlen, Größen, Mengen, Uhrzeiten und Preisen seit Beginn der Moderne enorm zugenommen, aber in vielen Fällen erscheint genaues Nachrechnen trotzdem nicht erforderlich: Zu einer Lesung kommen „ein paar Dutzend“ Leute, und wir geben Kindern „eine Handvoll Bonbons“, nicht zu viele und nicht zu wenige. Oftmals ist ungefähr eben immer noch gut genug.
Kerben, Kiesel, Knoten
Auch in der Kulturgeschichte finden sich Belege dafür, dass am Anfang allen Zählens der Umgang mit sehr kleinen Mengen steht. „1, 2, 3, ... viele“ – so zählte der Mensch, bevor es Zahlen gab, wie wir sie heute gebrauchen. Aus ethnografischen Berichten wissen wir, dass viele Urvölker nur zwei Zahlwörter kennen: eines für die Einheit und eines für das Paar. Durch Kombination der beiden können noch Mengen von drei und vier Dingen bezeichnet werden, alles darüber hinaus wird mit einem Wort belegt, das einfach „viel“ oder „eine Menge“ bedeutet.Auch im Französischen haben die Wörter „trois“ und „très“ – „drei“ und „sehr“ – dieselben Wurzeln.
Dennoch ist es möglich zu zählen, ohne über einen abstrakten Zahlbegriff oder überhaupt konkrete Zahlen zu verfügen. Das zeigen über 20.000 Jahre alte Knochenfunde aus der Steinzeit. Unsere prähistorischen Vorfahren schlugen gleichmäßige Kerben in diese Knochen, aller Wahrscheinlichkeit nach, um Mengen oder Zeitfolgen zu notieren. Die genaue Bedeutung der Kerben ist jedoch bislang unklar. Einerseits könnten Kerben dazu gedient haben, die Anzahl der bei der Jagd erlegten Tiere festzuhalten. Manche Wissenschaftler sind hingegen der Überzeugung, dass mit den Kerben kalendarische Ereignisse verzeichnet wurden, wie etwa die einzelnen Tage oder die Mondphasen. In jedem Fall scheinen Kerben dazu benutzt worden zu sein, auf einfache Weise über eine Anzahl von Ereignissen oder Gegenständen Buch zu führen.
Diese simple Form der Buchhaltung ist nicht mit den steinzeitlichen Jägern ausgestorben. Das Verfahren, mit Kerben unterschiedliche Anzahlen auszudrücken und zu speichern, findet sich zu allen Zeiten in den unterschiedlichsten Gegenden der Welt und hat sich auch in Europa bis ins 19. und frühe
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