Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
Idiosynkrasie eine individuell eigentümliche, stark ausgeprägte und unbegründet bleibende Zuneigung oder Ablehnung gegenüber bestimmten Reizen oder Dingen. Nicht nur das Geräusch quietschender Kreide auf einer Schiefertafel sorgt bei manchen für höchstes physisches Unbehagen, während es andere kaltlässt oder ihnen sogar angenehm ist. Auch Zahlen können solche eigensinnigen Reaktionen hervorrufen. Selbst innerhalb der Mathematik scheint es so etwas wie Affinitäten der Zahlen untereinander zu geben. Mathematiker sprechen allen Ernstes von „befreundeten“ oder „geselligen“ Zahlen. Die 220 und die 284 sind beispielsweise dicke Kumpel, weil die Summe ihrer Teiler jeweils die andere Zahl ergibt.
Auch wir Menschen nehmen Zahlen unterschiedlich intensiv wahr, fühlen uns von manchen angezogen, von anderen abgestoßen. Bei manchen nimmt diese Zahlen-Fixierung fast obsessive Formen an. Anna Wolke, Mitarbeiterin eines Designgeschäftes in Berlin, berichtet uns, dass sie darauf achte, ein Glas Saft am Morgen nur mit einer ungeraden Anzahl von Schlucken zu leeren: „Meistens endet es bei fünf, manchmal bei sieben, aber fünf ist irgendwie besser.“ – Hier müssen wir die Ausführungen Anna Wolkes kurz unterbrechen und darauf anstoßen, dass das Kapitel an dieser Stelle genau 6.666 Zeichen (mit Leerzeichen) hat. Prost! Weiter im Text! – Wenn sich abzeichnet, dass das nicht gelingt, müsse sie das Glas wieder auffüllen und neu ansetzen: „Eine gerade Anzahl fühlt sich einfach nicht richtig an. Ungerade dagegen bedeutet aufgeräumt, fest, das ist einfach eine gute Ausgangssituation für den Tag. Ungerade trinken fühlt sich richtig gedacht an, alles andere wäre falsch und würde den Tag ruinieren.“
Zu einem gegenteiligen Zahlenzwang bekannte sich vor einigen Jahren der Fußballstar David Beckham. Bei ihm muss alles in einer geraden Linie oder in Paaren angeordnet sein, zum Beispiel die Coladosen in seinem Kühlschrank. Findet er dort drei Dosen, wirft er eine weg, damit sie wieder eine gerade Anzahl haben, berichtete seine Frau Victoria. Ob das der Regelfall ist, ob Beckham immer zwei Dosen hintereinander kippt oder seine Frau zwingt, gemeinsam mit ihm zur Cola zu greifen, damit die gerade Anzahl nicht gefährdet wird, ist den Medienberichten leider nicht zu entnehmen.
Eine Zahlenidiosynkrasie anderer Art pflegt der Comiczeichner, Autor und Musiker Tex Rubinowitz. Die Zahlen von 1 bis 9 sind für ihn kauzige Typen, die er so charakterisiert: „Die 4 ist irgendwie schüchtern, verklemmt, 5 laut, sitzt halt in der Mitte und hat den Überblick, und 3 ist so abgeklärt, früh schon altersweise, 2 ist ein hübsches, schmollendes Mädchen, 6 verstehe ich überhaupt nicht, besserwisserisch, Snob, 7 hingegen exzentrische Dame wie Edith Sitwell, 8 ist schwul, 9 schlägt kleine Kinder auf dem Schulhof, 1 ist ein Idiot.“
Aber auch Menschen, die solche Obsessionen und starke Idiosynkrasien nicht kennen, pflegen im Alltag oft eine individuelle Zahlenmagie. Jeder hat Zahlen, die er sich besonders gut merken kann, weil sie gleichzeitig persönlich wichtige Daten markieren. Und fast jeder hat eine Lieblingszahl: eine Art numerischen Talisman, der einendurch den Alltag begleitet, über dessen unerwartetes Auftauchen man sich freut oder den man – je nach Grad der persönlichen Zahlenobsession – herbeizuzwingen sucht.
Der Evergreen und omnipräsente Langweiler unter den Lieblingszahlen ist die 7. Wer sie wählt, macht nichts falsch. Psychologen sprechen vom „blue seven phenomenon“: Mehrere Untersuchungen seit den 1970er Jahren haben gezeigt, dass Menschen, befragt nach ihrer bevorzugten Ziffer zwischen 0 und 9 und nach ihrer Lieblingsfarbe, besonders häufig die 7 und die Farbe Blau nennen. Wie universell die Präferenz für die 7 wirklich ist, bleibt allerdings umstritten. Oft sind die Ergebnisse solcher Tests der Tatsache geschuldet, dass nur College-Studenten westlicher Länder befragt wurden. Der Psychologe Joseph Henrich von der kanadischen University of British Columbia und seine Kollegen nennen diese typischen Teilnehmer psychologischer Studien „the weirdest people in the world“, wobei das Akronym WEIRD (engl. für seltsam, schräg) in diesem Fall für „western, educated, industrialized, rich and democratic“ steht. Der Fehler der Psychologen besteht darin, die Denkmuster und Verhaltensweisen der befragten Studenten zu verallgemeinern und als quasi-anthropologische Grundausstattung der
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