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Was vom Tode übrig bleibt

Was vom Tode übrig bleibt

Titel: Was vom Tode übrig bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Anders
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unklar, wer für die Wohnung und damit auch für die Reinigung zuständig war. Also hatten die Leichenreste, die vom Bestatter nicht mitgenommen worden waren, nochmals mehrere Monate auf Boden und Wände einwirken können. Man roch es deutlich. Dabei konnte ich auf Anhieb keinen Fehler finden.
    Eine Entrümpelungsfirma hatte die Wohnung komplett ausgeräumt und auch das Parkett entfernt. Dann hatte man einen Handwerker kommen lassen, der die stark saugfähige Rigipswand neben dem Leichenfundort abmontiert und durch eine neue ersetzt hatte. Anschließend hatte er den Estrich mit dem dunklen Fleck in der Zimmerecke, etwa zwei Meter an jeder Wandseite entlang, fein säuberlich abgetragen, bis kein belastetes Material mehr vorhanden war, und dann den Boden mit einem Zwei-Komponenten-Harz versiegelt; das hätten wir auch nicht besser hinbekommen. Sicherheitshalber hatten sie zwei Tage lang ein Ozongerät laufen lassen, was ich nicht empfohlen hätte, aber geschadet hatte es wenigstens auch nicht. Und trotzdem roch es im ganzen Raum nach Leiche, man roch es, wie man einen reifen Camembert riecht, sobald man nur die Kühlschranktür öffnet. Aber warum?
    Das Fenster war mein erster Verdacht. Obwohl es ein Neubau war, bestand der Rahmen aus Holz. Aber an diesem Tag habe ich gelernt, dass praktisch alles den Geruch annehmen kann, wenn es ihm nur lange genug ausgesetzt ist. Stärker noch als der Rahmen roch das Silikon, die Dichtungsmasse, mit der man das Fensterglas im Rahmen befestigt und die man normalerweise für so abweisend hält wie eine Teflonbeschichtung. Aber es war nicht nur das Fenster. Der Geruch steckte auch in den Wänden, und mehr noch, in den Plastikverschalungen der Steckdosen und Türschalter. Ich kalkulierte rasch durch: Wir mussten die Steckdosen entfernen, die Wände, die Decke, den Boden gründlich mit Chlorbleichlauge behandeln, das Fenster zerlegen. Sicherheitshalber wollte der Verwalter, dass wir auch den Rest der Wohnung behandelten– in acht Stunden sollten wir damit durch sein. Ich sagte, ich sei mir nicht sicher, ob wir die Fenster retten könnten, aber sonst würden wir alles hinbekommen. Ich ahnte nicht, wie oft ich diese Wohnung in den kommenden Wochen noch sehen sollte.
    Die Fenster waren noch das kleinste Problem. Wir öffneten sie, klappten sie auf, holten die Scheiben heraus und warfen die Silikondichtungen weg. Die Scheiben stellten wir ins Zimmer, den Rahmen behandelten wir mit Chlorbleichlauge, und den Raum klebten wir vorübergehend mit Folie ab, bis später der Glaser die Fenster reparieren würde. Das eigentliche Problem waren die Steckdosen. Der Geruch hing nicht nur in den Verkleidungen, die über dem Putz waren. Er hing auch in den Dosen in der Wand. Wir demontierten also die gesamten Steckdosen und Türstecker, und als wir damit fertig waren, stellten wir fest, dass es noch immer aus den Löchern mit dem Kabel herausroch. Der Leichengeruch war in die Plastikummantelungen der Stromkabel gekrochen. Und nicht nur das, sondern auch in die Plastikröhren, mit denen Elektriker in Rohbauten die Stromkanäle auskleiden. Doch die ließen sich nicht einfach herausziehen. Wir mussten sie aus der Wand heraushauen.
    Es war natürlich typisch. Murphys Gesetz. Sobald man eine Schraube in die Wand drehen will oder einen Dübel versenken, kann man sich darauf verlassen, dass man in einer Altbauwohnung ist, in der die Wände nur von der Farbe zusammengehalten werden. Man setzt einmal den Bohrer an und es rieselt einem der Sand entgegen, als hätte er nur darauf gewartet. Wir hätten was gegeben für eine solche Wand. Aber in unserem Fall bestand sie aus feinstem Nachkriegsbeton der 1970 er Jahre, selbstverständlich. Da kann man über jeden Zentimeter froh sein, bei dem einem der Meißel nicht abbricht.
    Wir prügelten uns millimeterweise nach oben. Zwanzig Zentimeter schlugen wir aus der Wand, bis die Plastikröhre darin endlich aufhörte zu stinken. Und das fünfmal. Denn wir waren ja nicht in einer Altbauwohnung, in der man pro Zimmer eine Steckdose hat, sondern in einer wunderschönen komfortablen Neubauwohnung mit Elektroanschlüssen für Staubsauger, Stereoanlagen, Stehlampen und all die anderen Segnungen, und aus jedem dieser nützlichen Elektroanschlüsse roch es nach verfaultem Fleisch. Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich war, als wir die letzte Dose zerlegt hatten. Der Rest war Routine. Wir bürsteten die Wände der gesamten Wohnung mit Chlorbleichlauge ab, ebenso die Decken und die

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