Was weiß der Richter von der Liebe
durch die Köpfe der Frauen: Wie komme ich heil hier raus? Soll ich alles über mich ergehen lassen, wird sonst alles viel schlimmer? (Sie sei so wahnsinnig kurzsichtig, wird eine der acht Zeuginnen vor Gericht bekunden; um zu fliehen, hätte sie ja erst ihre Brille suchen müssen!) Nur eine Frage, aber das ist verständlich, kommt in diesen erregten Momenten nicht auf, denn man kann ja nicht überall sein, nicht alles lesen und merken: Sollte dieser Physiotherapeut etwa umHimmels willen derselbe sein, der im Jahre 2003 in Potsdam zu eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt wurde – weil er eine 15-Jährige sexuell belästigt hatte, die sich um einen Ferienjob bei ihm bewarb?
Das kann man nicht wissen, nie kann man sich sicher sein, was hier noch zu befürchten sein könnte; mit unentschlossenem »Mhm« quittiert man gelegentliche Rückfragen: ob denn das alles angenehm sei; stillschweigend übergeht man das Angebot, durchaus jetzt auch stöhnen zu dürfen, still wartet man ab, bis die halbe oder ganze Stunde endlich vorbei ist und man lebend wieder hinaus kann auf die Straße, zwischen Menschen, heimwärts taumeln, Erinnerungen im Gepäck, die keine mehr sein sollen; Erinnerungen, die noch heute im Zeugenstand Knie zittern lassen, Stimmen versagen, Nacken sich tief röten und Tränen fließen lassen; oder Erinnerungen auch, die ihre Inhaberin »nicht aus der Bahn geworfen« haben und ebendeshalb irgendwo abgelegt werden. Zwei Jahre dauert das Treiben an, vorzugsweise im aufkeimenden Sommer, so scheint es, spritzen sich mancherlei Hormone ins Therapeutenhirn ein. Wie weit man es treiben kann, hat er aber immer noch nicht herausbekommen. Da liest er eine Kleinanzeige: Kosmetikerin, Mitte vierzig, auf Jobsuche. Bald hat er sein Telefon in der Hand, eine Kosmetikerin, sagt er, könne er gut brauchen für seinen Wellnessbereich: wie sie denn so aussehen würde, für den Wellnessbereich brauche man attraktive Leute. Sie beschreibt sich also und darf dann vorsprechen gehen, es wird wieder einer jener geheimnisvollen Fortbildungstage, an denen man die lichtdurchflutete schöne Ärztehaus-Praxisganz ungestört auf sich wirken lassen kann, und ebenso den potentiellen neuen Chef.
Frau Kienast, Name geändert, sagt, eine Sympathie sei da zwischen ihnen gewesen, ein ganz persönliches Gespräch habe man geführt, über die persönlichen Lebensumstände, über Gott und die Welt, geduzt habe man sich. Ob sie irgendwo Schmerzen habe? Nein, die hatte sie nicht, aber eine Massage kann ja nie schaden, und ein Chef müsse ja auch mal seinen Mitarbeitern etwas Gutes tun. So stieg Frau Kienast auf die Liege in jener Praxis, die sie geschätzte zwei Stunden später wieder verlassen sollte, stieg sie auf die Liege, mit einer Hoffnung auf Arbeit und nette Umgebung. Und da Frau Kienast vom Fach war und sich auch über Nacktheit weniger verwunderte als andere Menschen, und da es ja auch möglich war, dass der freundliche, nette Physiotherapeut im Rahmen seiner vielen Schulungen den einen oder anderen Sonderkniff sich angeeignet hatte, so öffnete Frau Kienast sich noch weiter als alle anderen zuvor, und da es heiß und die Atmosphäre ungezwungen war, so kam es zu gegenseitigen Massagen, zur Rauchpause, kam es zum nachhaltigen Kleiderverlust auch des Therapeuten. Dass die gesamte Begegnung rein beruflich war, davon versuchte sich Frau Kienast redlich zu überzeugen, und als sie sich nicht mehr überzeugen konnte, lag sie viel zu lange schon bäuchlings auf der Liege und machte Bekanntschaft mit Körperteilen und Regionen, von denen sie nicht hatte wissen wollen, und so blieb sie und fühlte sich hilflos und ließ Dinge geschehen, die in keinem, auch dem ganzheitlichsten Massagebuch wohl nicht stehen, es sei denn, man habe einander recht gern.
Ein Klingeln war die Erlösung, gerade rechtzeitig vor der nächsttieferen Erniedrigung, jemand war an der Tür und unterbrach den Vorgang, und Frau Kienast, die noch ganz verdattert war, suchte sich und ihre Kleidung zusammen und ließ sich einen Termin für nächste Woche geben. Dann ging sie fort. Dachte viel nach. Und befand: Sie konnte kein Einzelfall sein. Diese Routine, dieses Austesten – alle Frauen nach ihr waren in Gefahr. Frau Kienast ging zur Polizei. Die Polizei fand schnell und reichlich andere Frauen: eine, zwei, drei, acht. Die reden jetzt. Herr S. aber macht von seinem Schweigerecht Gebrauch, absentiert sich dann vor dem nächsten Termin – und muss in Abwesenheit
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