Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
die sich mit ihrer Freiheit so ausbreiten, dass diejenige des Einzelnen erstickt? Das sind doch auch alles nur Einzelne. Diese
schweizerische, duckmäuserische, nie nachlassende Angst vor den «anderen»! Was die «anderen» wohl denken, was die «anderen»
wohl sagen, was passiert, wenn die «anderen» dies oder das nicht so gut fänden. Dieses Sich-selber-Ausradieren, damit man
ja die «anderen» nicht vielleicht stört.
Davon wollte ich mich doch befreien! Nun, hier habe ich sie jetzt. Die Freiheit der anderen, die eben NICHT endet, nur weil
ein zugezogener kleiner Schweizer seine Freiheit zu schlafen schon in der ersten Nacht existenziell bedroht sieht.
Wenn ich als Kind zurechtgewiesen wurde mit dem Satz «Das macht man nicht», wollte ich immer genau wissen, warum nicht. Die
Antwort war meistens: «Ja stell dir mal vor, wenn das jetzt alle machen würden!» Also versuchte ich, nichts mehr zu machen,
was schlecht wäre, wenn es alle machen würden. Erst in der Pubertät merkte ich: Dann kann man gar nichts mehr machen. Weil
schlichtweg
alles
zur Katastrophe führt, wenn es
alle
machen. Zum Beispiel, |45| meine Freundin küssen. Wenn das
alle
machen würden … das arme Mädchen! Oder Kartoffelbrei essen. Wenn das
alle
machen würden, der globale Kartoffelmangel würde den Dritten Weltkrieg auslösen. Oder einem Bettler einen Euro schenken. Wenn
jeder jedem
Bettler einen Euro gäbe. Weltwirtschaftskrise, denn dann würde jeder Bettler werden wollen, sodass schnell nur noch Bettler
in der Lage wären, den Bettlern einen Euro geben zu können.
Alle
Menschen würden Bettler und gäben einander permanent einen Euro. Die immer gleichen Euros würden von Bettler zu Bettler wandern,
in einem ewigen, sinnlosen Kreislauf, der die ganze Menschheit erfassen würde, und das … wäre ihr Untergang.
Es passiert nichts Schlimmes, wenn man
dennoch
seine Freundin küsst, Kartoffelbrei isst, dem Bettler einen Euro schenkt. Oder mit seinen Kumpels nachts besoffen am Dorfanger
rumgrölt. Morgen werden wir unser eigenes Bett ins Haus schaffen und es natürlich nicht in diesem straßenseitigen Milhoff-Schlafzimmer
aufstellen, sondern im gartenseitigen Zimmer, in Richtung der stillen Felder. Ganz einfach! Dann können die Dörfler feiern,
soviel sie wollen, wir werden ungestört schlafen. Ach, das wird herrlich! Ich bin gerade dabei, meine erste Lektion in brandenburgischer
Toleranz zu lernen.
Dennoch, in dieser Nacht lässt mich der kleine Schweizer in meiner Brust, der sich immer weiter über die rücksichtslosen Gröler
da draußen aufregen will, noch lange, lange nicht einschlafen …
|46| Abgang Wessis
Am nächsten Tag begrüßt uns prächtiges Sommerwetter. Alle Tiere haben die Nacht gut überstanden. Das Pferd und die Esel haben
sich mit den Araberpferden der Milhoffs über den Koppelzaun hinweg so gut bekannt gemacht, dass wir die beiden Gruppen zusammenfassen
können. Unsere Schimmelstute ist großartig als Chefin ihrer Langohrherde, und sie findet in einem zweijährigen Araberwallach
sogar einen Verehrer …
Auch die Enten haben in ihrem Kunstobjekt anscheinend gut geruht. Als ich das Türbrett aufbreche, stolzieren sie stracks zu
ihrer Babywanne und genießen ihr Morgenbad. Ich öffne die Umzäunung. Sie werden jetzt, da sie ihn kennen, abends auf Zuruf
in den Stall gehen wie in der Schweiz. Nur die Katzen müssen noch unglücklich und unterbeschäftigt in ihrem Keller ausharren.
Kein Lebewesen kann mit mehr Grandezza beleidigt sein als eine Katze.
Selbst Milhoffs rücken nun besser ausgerüstet an. Mit einem großen Lieferwagen statt ihrem lächerlich kleinen Hängerchen.
Am frühen Nachmittag ist wenigstens der Wohnbereich des Hauses |47| halbwegs leer geräumt. Frau Milhoff bewaffnet sich, o Wunder, sogar mit einem Besen, die Böden kriegen ein Upgrade zum Status
«besenrein». Das versöhnt mich immerhin so weit, dass ich die beiden zum Kaffee einlade, den ich in ihrer (nein:
meiner
, verflixt!) Küche zubereite.
Wie sie da so sitzen, an einem fremden Tisch in der zwar vertrauten Küche, die dennoch nicht mehr die ihre ist, nehme ich
sie zum ersten Mal als Persönlichkeiten wahr und nicht mehr nur als Vorbesitzer, die gefälligst endlich abhauen sollen. Milhoff
ist ein kleiner, etwas in die Breite gegangener Mittsechziger mit schütteren, über die Halbglatze gekämmten gelb-weißen Haarresten.
Seine unwesentlich jüngere Frau bewegt sich langsam wie
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