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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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befanden sich die Tiere, die gerade
     eben noch knapp vor dem Eingang gestanden hatten, zweihundert Meter weiter rechts. Im offenen Land. Und begannen, stolz auf
     ihre Leistung, zu grasen.
    |250| Das war der Moment, als Sonja die Nerven wegschmiss. Zuerst schrie sie. Dann steigerte sie sich ins Brüllen. Dann zertrampelte
     sie brüllend das arme Gras. Sie hatte die Wut. Die richtige, wilde, reine, pure Wut. Die Wut, die alles andere verdrängt,
     bis das ganze Universum nur noch aus Wut besteht. Die Wut, die rausmuss, die sich Luft machen muss. Gras zertrampeln reichte
     nicht für diese Wut, lange nicht. Sonja riss sich brüllend die Jacke vom Leib, schmiss sie auf die Erde, trampelte auf ihr
     herum. Doch die Wut brauchte noch mehr Luft. Sonja riss sich die Weste vom Leib, malträtierte auch sie mit ihren schweren
     Schuhen – es reichte noch immer nicht. Sonja riss sich das Hemd vom Leib, stand jetzt im Leibchen, zermalmte das Hemd in wildem
     Rumpelstilzchentanz, doch mit ihren schweren Schuhen konnte sie nicht so schnell tanzen, wie es die Wut brauchte, sie heulte
     laut auf und nestelte an den Schuhbändern, trat sich den ersten Schuh von den Füßen, er flog in hohem Bogen Richtung Schafe,
     dann   … hörte sie ihn lachen. Teddy stand auf der Wiese und lachte. Er ließ sein Lachen tief aus seinen Eingeweiden hervordröhnen,
     er krümmte sich vor Lachen, rang nach Luft, lachte weiter. Und sein Lachen knipste Sonjas Wut aus, klick und weg. Einfach
     so. Wie ein Lichtschalter: klick und dunkel.
    Sonja begriff die Absurdität der Situation. Sah sich selbst mit nur einem Schuh auf der Weide stehen, ihre Kleider um sich
     verstreut, ein lachender Riese, die Schafe weit weg und über allem, unberührt von allem, der weite Himmel Brandenburgs.
    Und seltsam, als sie in Teddys Lachen einstimmte, fühlte es sich an wie   … Glück? Ja, wie Glück!
    Sonja taucht aus ihrer Erinnerung auf. Sie atmet tief ein, schnaubt aus. Von wegen «war da wat gewesen?».
    «Du, Teddy?», fragt Sonja und wendet sich ihm voll zu. «Du hast dich doch daran gehalten, oder?»
    |251| «Wo dran?»
    «Was du mir damals versprochen hast, nachher, nachdem wir die Schafe dann doch noch in die verdammte Koppel gekriegt hatten.»
    «Ach dette. Dass ich niemandem im Dorf was erzählen tu, von deinem Striptease?»
    «Und, hast du’s erzählt?»
    Teddy setzt ein sehr, sehr ernstes Gesicht auf, fixiert Sonja mit den Augen und sagt: «Nö.»
    «Niemandem?»
    «Nö.»
    Sie wenden sich wieder den Schafen zu.
    «Teddy?»
    «Hm?»
    «Was hast du dir eigentlich gedacht, als ich da so durchgedreht bin?»
    «Ich hab gehofft, dass de aufhören tust.»
    «Mit dem Schreien?»
    «Nö. Mit dem Ausziehen.»
    Teddys Ei-im-Fellnest-Gesicht verzieht sich in die Breite, sein Körper beginnt rhythmisch zu wackeln wie ein strammer Riesenpudding,
     zuerst lacht er leise glucksend in sich hinein, dann schwillt es an, und schließlich bricht es aus ihm heraus und vermischt
     sich mit Sonjas Lachen. Die Kiefer der Schafe unterbrechen ihre Kauarbeit, ihre Köpfe wenden sich den Menschen zu, die, sich
     krümmend und torkelnd, vor ihrem Gehege um Luft ringen.
    Schließlich kommen die beiden wieder zur Ruhe, stehen abermals nebeneinander, in den Anblick der Herde versunken. 33   Tiere, Mütter und Lämmer zusammengerechnet. Mehr als doppelt so viele wie zu Beginn des Winters. Jedes Lamm hat seine eigene
     Geschichte, wie es auf diesem Planeten gelandet ist. Sonja hat die Ankunft jedes einzelnen als reines Wunder erlebt.
    |252| Streng ist er gewesen, dieser zweite Winter in Amerika, sehr streng. Sonja hat nicht gezählt, wie viele Kanister heißes Wasser
     sie in dieser Zeit auf die Weide geschleppt und über die Eisblöcke in den Schaftränken gegossen hat. Tonnen von heißem Wasser.
     Sie erinnert sich, wie sie wieder und wieder besorgt ihre Finger in das Fell der Schafe gegraben hat, um immer staunend festzustellen,
     welch kuschelige Wärme die Tiere in ihrem dicken Vlies gespeichert hatten.
    Und dann, eines Nachts, bei minus 15   Grad, kam das erste Lamm zur Welt. Sonja traute ihren Augen nicht, als sie das winzige weiße Wesen plötzlich zwischen den
     Beinen eines Mutterschafs entdeckte. Das konnte doch nicht wahr sein! Nach der Aussage des Vorbesitzers sollte die Ablammzeit
     auf Ende März, Anfang April fallen. Jetzt war erst Ende Februar! Sonja war außer sich. Wenn nun alle anderen Muttertiere auch
     ablammen würden, wie sollte sie die kleinen Würmer warm

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