Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
befanden sich die Tiere, die gerade
eben noch knapp vor dem Eingang gestanden hatten, zweihundert Meter weiter rechts. Im offenen Land. Und begannen, stolz auf
ihre Leistung, zu grasen.
|250| Das war der Moment, als Sonja die Nerven wegschmiss. Zuerst schrie sie. Dann steigerte sie sich ins Brüllen. Dann zertrampelte
sie brüllend das arme Gras. Sie hatte die Wut. Die richtige, wilde, reine, pure Wut. Die Wut, die alles andere verdrängt,
bis das ganze Universum nur noch aus Wut besteht. Die Wut, die rausmuss, die sich Luft machen muss. Gras zertrampeln reichte
nicht für diese Wut, lange nicht. Sonja riss sich brüllend die Jacke vom Leib, schmiss sie auf die Erde, trampelte auf ihr
herum. Doch die Wut brauchte noch mehr Luft. Sonja riss sich die Weste vom Leib, malträtierte auch sie mit ihren schweren
Schuhen – es reichte noch immer nicht. Sonja riss sich das Hemd vom Leib, stand jetzt im Leibchen, zermalmte das Hemd in wildem
Rumpelstilzchentanz, doch mit ihren schweren Schuhen konnte sie nicht so schnell tanzen, wie es die Wut brauchte, sie heulte
laut auf und nestelte an den Schuhbändern, trat sich den ersten Schuh von den Füßen, er flog in hohem Bogen Richtung Schafe,
dann … hörte sie ihn lachen. Teddy stand auf der Wiese und lachte. Er ließ sein Lachen tief aus seinen Eingeweiden hervordröhnen,
er krümmte sich vor Lachen, rang nach Luft, lachte weiter. Und sein Lachen knipste Sonjas Wut aus, klick und weg. Einfach
so. Wie ein Lichtschalter: klick und dunkel.
Sonja begriff die Absurdität der Situation. Sah sich selbst mit nur einem Schuh auf der Weide stehen, ihre Kleider um sich
verstreut, ein lachender Riese, die Schafe weit weg und über allem, unberührt von allem, der weite Himmel Brandenburgs.
Und seltsam, als sie in Teddys Lachen einstimmte, fühlte es sich an wie … Glück? Ja, wie Glück!
Sonja taucht aus ihrer Erinnerung auf. Sie atmet tief ein, schnaubt aus. Von wegen «war da wat gewesen?».
«Du, Teddy?», fragt Sonja und wendet sich ihm voll zu. «Du hast dich doch daran gehalten, oder?»
|251| «Wo dran?»
«Was du mir damals versprochen hast, nachher, nachdem wir die Schafe dann doch noch in die verdammte Koppel gekriegt hatten.»
«Ach dette. Dass ich niemandem im Dorf was erzählen tu, von deinem Striptease?»
«Und, hast du’s erzählt?»
Teddy setzt ein sehr, sehr ernstes Gesicht auf, fixiert Sonja mit den Augen und sagt: «Nö.»
«Niemandem?»
«Nö.»
Sie wenden sich wieder den Schafen zu.
«Teddy?»
«Hm?»
«Was hast du dir eigentlich gedacht, als ich da so durchgedreht bin?»
«Ich hab gehofft, dass de aufhören tust.»
«Mit dem Schreien?»
«Nö. Mit dem Ausziehen.»
Teddys Ei-im-Fellnest-Gesicht verzieht sich in die Breite, sein Körper beginnt rhythmisch zu wackeln wie ein strammer Riesenpudding,
zuerst lacht er leise glucksend in sich hinein, dann schwillt es an, und schließlich bricht es aus ihm heraus und vermischt
sich mit Sonjas Lachen. Die Kiefer der Schafe unterbrechen ihre Kauarbeit, ihre Köpfe wenden sich den Menschen zu, die, sich
krümmend und torkelnd, vor ihrem Gehege um Luft ringen.
Schließlich kommen die beiden wieder zur Ruhe, stehen abermals nebeneinander, in den Anblick der Herde versunken. 33 Tiere, Mütter und Lämmer zusammengerechnet. Mehr als doppelt so viele wie zu Beginn des Winters. Jedes Lamm hat seine eigene
Geschichte, wie es auf diesem Planeten gelandet ist. Sonja hat die Ankunft jedes einzelnen als reines Wunder erlebt.
|252| Streng ist er gewesen, dieser zweite Winter in Amerika, sehr streng. Sonja hat nicht gezählt, wie viele Kanister heißes Wasser
sie in dieser Zeit auf die Weide geschleppt und über die Eisblöcke in den Schaftränken gegossen hat. Tonnen von heißem Wasser.
Sie erinnert sich, wie sie wieder und wieder besorgt ihre Finger in das Fell der Schafe gegraben hat, um immer staunend festzustellen,
welch kuschelige Wärme die Tiere in ihrem dicken Vlies gespeichert hatten.
Und dann, eines Nachts, bei minus 15 Grad, kam das erste Lamm zur Welt. Sonja traute ihren Augen nicht, als sie das winzige weiße Wesen plötzlich zwischen den
Beinen eines Mutterschafs entdeckte. Das konnte doch nicht wahr sein! Nach der Aussage des Vorbesitzers sollte die Ablammzeit
auf Ende März, Anfang April fallen. Jetzt war erst Ende Februar! Sonja war außer sich. Wenn nun alle anderen Muttertiere auch
ablammen würden, wie sollte sie die kleinen Würmer warm
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