Was wir unseren Kindern in der Schule antun
einem Schnitt von etwa 2,6 bis 3,4 liegen sollten. Das ist nicht allzu schwer: Ein paar Aufgaben mehr, weniger Zeit, eine umständlichere Formulierung der Aufgaben, weniger Punkte in der Probe insgesamt, ein strengerer Notenschlüssel. Den Kindern durfte ich natürlich nicht sagen, dass die Proben absichtlich so erstellt waren. Ich wurde mit einem so erzielten deutlich schlechteren Notendurchschnitt zwar endlich von den Vorgesetzten in Ruhe gelassen, aber die Kinder erlitten Schaden. Schlagartig hatte sich die Atmosphäre im Klassenzimmer
geändert. Die Freude am Lernen, die Begeisterung waren weg. Angst und Stress fanden ihren Weg zurück ins Klassenzimmer. Kinder erledigten ihre Hausaufgaben nicht mehr, sie arbeiteten nicht mehr so ordentlich und gründlich, nahmen nicht mehr so aktiv am Unterricht teil. In freieren Arbeitsphasen musste ich sie stärker zum Arbeiten anhalten. Aber das Schlimmste war: Sie hielten sich selbst wieder für dumm und unfähig.
Ein Kind, das sich zuvor sehr zuversichtlich und fleiÃig auf den Probeunterricht an einer weiterführenden Schule vorbereitet hatte, hörte mit einem Schlag auf zu lernen: âIch kannâs ja doch nichtâ, war die Begründung, die sich einzig auf die in den aktuellen Proben erzielten Noten bezog. Auch andere Kinder fielen in die Ãberzeugung zurück, nicht fähig zu sein. Hatten sie sich noch wenige Wochen zuvor mutig an Aufgaben gewagt, blockierten sie nun und lieÃen sich gar nicht mehr darauf ein. Oft wussten sie nun teilweise auf die einfachsten Fragen keine Antworten mehr, es fiel ihnen auch ungeheuer schwer, neue Inhalte aufzunehmen. Es war, als wäre eine schon geöffnete Tür wieder zugeschlagen. Und auch in den Elternhäusern konnte man teilweise wieder eine Veränderung bemerken, manch eine Mutter vertraute mir an, dass sie mit ihrem Kind ziemlich geschimpft habe und nun doch daran zweifle, dass es fähig sei. Vor Elterngesprächen scheute ich nun fast zurück â wie sollte ich die auf einen bestimmten Notenschnitt zielende Probenstellung und die Bewertungen derselben erklären? Wie sollte ich mit einer Mutter FördermaÃnahmen beratschlagen, wenn mir doch klar war, dass die nächste Probe vom Schnitt her wieder genauso ausfallen müsste und dieses Kind sich deshalb gar nicht wesentlich in der Note verbessern würde? Ich ertappte mich dabei, wie ich tatsächlich Gesprächstermine erst für Wochen später vergab, statt zeitnah wie bisher, und mich bei den Antworten wand, statt offen zu sprechen. Als Bereicherung erlebte ich diese Gespräche nun nicht mehr, und mir dafür weiterhin jeweils eineinhalb Stunden Zeit zu nehmen, erschien mir zunehmend sinnlos.
Noch deutlicher zeigte sich der beschriebene Effekt in einer ersten und zweiten Klasse, in der zunächst alle Kinder gemeinsam
ohne Proben und Noten lernen durften, aber Mitte der zweiten Klasse plötzlich mittels der Proben benotete Beurteilungen erhielten. In einer meiner Klassen habe ich dies sehr deutlich erlebt, als ich von der Möglichkeit Gebrauch machte, im ersten Schuljahr keine bewerteten Testaufgaben zu schreiben. Das war zwar nicht gern gesehen, doch nur so konnte ich den Kindern wenigstens ein Jahr Schonraum geben, um in Ruhe und sinnhaft für sich lernen zu können, etwas Selbstvertrauen zu gewinnen und sich nicht sofort beweisen zu müssen. Die Kinder erhielten von mir individuelle Rückmeldungen und ich prüfte hin und wieder für mich ab, ob alle Kinder die Lernziele erreicht hatten. Das Ergebnis war genauso, wie ich es aus den Jahren vor Wiedereinführung der Noten gekannt hatte: Alle Kinder hatten die Lernziele erreicht. Und: Alle Kinder lernten fleiÃig, kooperativ und freudig. Der Unterschied nicht nur in der Atmosphäre, sondern eben auch im Resultat, war daher besonders deutlich zu beobachten, als diese Kinder in der zweiten Klasse nun benotet wurden.
Binnen weniger Tage ändert sich das Klima in der Klasse, ändert sich die gesamte Ausrichtung der Kinder. Plötzlich und doch schleichend und subtil gibt es die guten und die schlechten Kinder und nicht mehr Anna, Josef und Chloe. âIch habe eine Eins! â Und du?â, stolzieren zwei, drei Kinder durch die Klasse und erfreuen sich am âBesserseinâ. Andere verbergen beschämt die Note unter ihren Händen. Hier passiert etwas ganz Entscheidendes, was ab diesem Zeitpunkt immer weiter um sich
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