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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanbine Czerny
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kassieren. Im Prinzip ist das nur ein gesunder Selbstschutz, doch zugleich der Start in einen fatalen Teufelskreis. Hier beginnt oft eine Laufbahn als Risikoschüler, als einer der Schüler, die im Jugendalter nicht über die Lese—und Rechenkompetenz eines Grundschülers hinauskommen.
    Gerade in der Grundschulzeit entwickeln und verfestigen sich Glaubenssätze, die Kinder oft ihr Leben lang mit sich herumtragen: „Ich kann nicht rechnen“, „Ich bin schlecht im Schreiben“, „Ich kann nicht singen“. All diese Überzeugungen entstehen aufgrund von Rückmeldungen anhand von Noten und Urteilen anderer. Urteile, die sich in einen Menschen einbrennen und ihn oft davon abhalten, jemals wieder in diesem Bereich Anstrengungen zu unternehmen. Urteile, die häufig nicht differenzieren. Urteile, die meist die Rahmenbedingungen nicht miteinbeziehen, den größeren Zusammenhang nicht sehen, sondern sich über die Dinge stellen. Kinder brauchen Rückmeldungen über ihren individuellen Lernzuwachs, die all diese Faktoren berücksichtigen, ohne den ständigen Vergleich, der sich noch dazu an ganz wenigen, ausgewählten Fähigkeiten festmacht. Nur so kann die Motivation aufrechterhalten werden, sich auch nach Fehlschlägen weiter zu bemühen. Und nur so wird eine ganzheitliche Entwicklung möglich. Anstrengungsbereitschaft
entsteht, wenn Kinder erlebt haben, dass sie Ziele erreichen. Das aber muss in der Schule ermöglicht werden — und gerade dann, wenn es nicht von Anfang an problemlos gelingt. Stattdessen werden durch die Noten und den ständigen Zwang zur Beurteilung viele Kinder von derlei Erfahrungen ab der frühen Kindheit ausgeschlossen.
    Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich eines dieser Buchstabenhefte vor mir liegen hatte, in dem jedes Kind nach dem Beispiel der von mir vorgeschriebenen Buchstaben die Zeilen füllen soll. Die „O”, die zu schreiben waren, sahen in diesem Heft viel zu klein und zu krakelig aus. Ich wollte das gerade mit rotem Stift verbessern, da steht dieser kleine Junge neben mir, schaut mich mit seinen mandelbraunen Augen ganz erwartungsvoll an und sagt: „Schau mal, wie gut mir das gelungen ist — ich habe mir solche Mühe gegeben.“ Was tue ich diesem Kind an, wenn ich nicht sein Bemühen sehe, sondern nur nach absoluten Maßstäben urteile? Es wird die Freude verlieren, und zwar bald. Ein Kind kann nicht mehr tun, als sich zu bemühen — auch wenn es noch nicht auf Anhieb klappt.
    Dass viele Kinder teilweise minimale schulische Anforderungen nicht mehr erfüllen können, nicht mehr fundiert rechnen, schreiben und lesen lernen, liegt nicht daran, dass sie das nicht könnten, sondern dass ihnen durch die ständigen Verweise auf Fehler und Defizite eingebläut wird, unfähig zu sein und sie es irgendwann glauben. Bereits in der zweiten Klasse, da sind die Kinder gerade sieben Jahre alt, sind einige von ihnen fest davon überzeugt, dass sie nicht rechnen oder lesen können und das auch niemals lernen werden.
    Viele Eltern müssen erleben, wie sich ihr Kind während der Schulzeit verändert. Aus den kleinen neugierigen Zwacks, die strahlend lächeln, werden aggressive, missmutige oder völlig in sich gekehrte Kinder. Sie haben bereits durch die allerersten schulischen Urteile erfahren: Ihr ganzes Bemühen, diese vielen Bögen und Linien als Buchstaben zu erkennen und sie zu Lauten und Worten zu formen, wird damit quittiert, nicht zu genügen. Sie bekommen stets die Rückmeldung, nicht gut genug zu sein, nicht so gut zu sein wie andere, nicht fähig zu
sein — selbst wenn die Lehrerin sehr bemüht ist und beständig versucht, jedes Kind für Gelungenes zu loben. Aber die meisten Kinder können in der achten Schulwoche das Wort „Herz“ einfach noch nicht richtig schreiben und auch nach drei Monaten das Wort „Ritter” nicht, ebenso wenig wie ein Erwachsener ohne Vorkenntnisse nach wenigen Wochen arabisch fehlerfrei schreiben könnte. Vieles würde sich fügen — aber die Zeit dafür wird nicht gegeben.
    Eine Mutter beschreibt solch eine Entwicklung schmerzhaft treffend: „Mein Sohn Mike war ein sehr lebenslustiger Junge, bevor er in die Schule kam, er war interessiert an so ziemlich allem. Er hat mit seinem Vater immer Modellflugzeuge gebaut, kannte die ganzen verschiedenen Namen, konnte schon erklären, wie

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