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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanbine Czerny
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ein Motor funktioniert. Als er in die Schule kam, brachte er die ersten Proben mit recht wenigen Punkten zurück. Er hatte Buchstaben nicht ordentlich in die Linien geschrieben, das gab Punktabzug, und er hat manchmal einen Buchstaben nicht gehört, wenn er sich ein Wort allein vorsprach. Die Lehrerin meinte, wir sollten viel üben, das haben wir auch getan. Eigentlich haben wir nur noch geübt. Ich fand auch, dass er tatsächlich besser wurde — nur die Proben wurden nicht besser, später bekam er dann immer Vierer und Fünfer. Mein Mann und ich waren schon der Verzweiflung nahe. Wir sind von Pontius zu Pilatus gelaufen, haben uns Hilfe geholt. Mike wurde getestet, dann waren wir bei der Kinderpsychologin. Am schlimmsten war, dass wir zu Hause immer öfter gestritten haben. Ich war verzweifelt, wenn er wieder eine schlechte Note mit nach Hause brachte. Und ja, auch ich habe mich hinreißen lassen, ihn zu beschimpfen, ihm vorzuhalten, wie dumm er ist, warum er das da in der Probe nicht gekonnt und dieses dort einfach falsch hingeschrieben hatte. Es gab eigentlich täglich Streit. Ich wollte mit ihm üben, er wollte nur raus zum Spielen. Manchmal ging das Theater schon morgens los, er wollte einfach nicht mehr in die Schule. Stand eine Probe an, konnte er nächtelang nicht schlafen, hatte Angst, zweimal hat er sogar wieder ins Bett eingenässt. Oft saß er dann wohl vor seinem Blatt Papier, und es fiel ihm nichts mehr ein. Wie wenn alles weg wäre, was er jemals
gelernt hatte. Wir haben wirklich viel geübt, wir dachten auch immer, er kann es, aber in den Proben hatte er dennoch immer Vierer und Fünfer. Mike hatte dann auch keine Lust mehr zum Lernen. ‚Es bringt ja doch nichts’, sagte er, oder: ‚Ich weiß doch, dass ich dumm bin.’ Die Lehrerin sagte uns dann, dass er es halt einfach nicht besser könne. Wir seien vielleicht zu ehrgeizig, wir sollten ihn nicht so unter Druck setzen. Alle Eltern wollten, dass ihr Kind aufs Gymnasium geht, aber es gäbe halt nicht nur kluge Kinder. Die Hauptschule wäre wohl angemessen für ihn. Ich wollte doch mein Kind nicht unter Druck setzen, ich wollte ihm eigentlich helfen. Für mich war es sehr schwer, zu akzeptieren, dass dieses interessierte, wache Kind, das ich einmal hatte, so dumm sein sollte. Sein Verhalten änderte sich sehr, er wurde immer stiller. Zu nichts mehr hatte er Lust, am liebsten wollte er nur noch fernsehen und am Computer spielen. Irgendwann hatten wir uns in der Familie aufgerieben, auch zwischen mir und meinem Mann kam es immer öfter zum Streit. Es war eine grauenhafte Zeit. Ich glaube, wir haben einfach irgendwann kapituliert. Mike geht jetzt auf die Hauptschule, schreibt weiterhin so seine Vierer und Fünfer. Ich habe den Kontakt zu meinem Sohn irgendwie verloren, er hängt mit Freunden rum und ich habe oft Angst, dass er nicht nur Zigaretten raucht. Lernen interessiert ihn nicht, ich bin froh, wenn er seine Hausaufgaben wenigstens einigermaßen macht. Es tut mir weh zu sehen, dass er immer noch nicht flüssig lesen kann — aber er war und ist einfach nicht mehr dazu zu bewegen, zu lesen. ‚Lesen ist toll’, hat er immer gesagt. Doch als er zweimal eine Vier in der Leseprobe hatte, hörte er auf zu lesen. ‚Ich dachte, ich kann wenigstens lesen’, sagte er damals, ‚aber nicht einmal das kann ich.′ Auch beim Rechnen hapert’s. Dabei hat er, als er noch klein war, doch immer schon mit seinem Vater ausgerechnet, wie viel er noch für ein neues Modellflugzeug sparen muss — damals konnte er noch rechnen. Ich bin so unendlich traurig, aber ich weiß mir keinen Rat.“
    Ã„hnliche Geschichten hört man von vielen Eltern. Auch ich hatte solche Vierer— und Fünferkinder in der Klasse. Man erlernt sie relativ schnell, sobald man eine Klasse betritt: Entweder
sind es die Kinder, die in sich zusammengesunken dasitzen, oder die, die auffallen, aggressiv sind, ständig stören, unangemessenes, oft provozierendes Verhalten zeigen, und denen oft im zarten Alter von acht oder neun Jahren schon alles egal ist — was sie dann teilweise auch sehr lautstark und in unflätiger Sprache kundtun. Sind diese Kinder wirklich so, wie sie sich geben? Schaut man sie sich genauer an — ohne pauschalisieren zu wollen — fehlt ihnen die Freude, fehlt ihnen die Achtsamkeit, fehlen sie sich irgendwie selbst. Die Kinder glauben nicht

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