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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanbine Czerny
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Gesellschaft aufgewachsen und habe Schulen besucht, die mir die Begrenztheit jedes Menschen vermitteln wollten und mich genötigt haben, mich damit abzufinden. Auch ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass es genetisch bedingt einfach „praktisch begabte“ Menschen gibt, die sich nun mal mit dem Denken eher schwertun. Aber auch wenn nicht jeder Mensch sein volles Potenzial ausschöpfen wird, heißt das nicht, dass wir ihn schon von vornherein als begrenzt sehen müssen. Eine Grundvoraussetzung, um jedes Kind individuell, liebevoll und respektvoll auf seinem Weg begleiten zu können, ist meines Erachtens die Überzeugung, dass jedes Kind ein wundervoller Mensch ist, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten und Eigenschaften, und geprägt von verschiedenartigen Erfahrungen und Erlebnissen,
aber eben doch ausgestattet mit vollem Potenzial. Würde uns nicht das System eine derart folgenschwere Vorstellung über die uns anvertrauten Kinder aufdrängen, sondern uns ermutigen, in allen Kindern das volle Potenzial und die reichen individuellen Anlagen zu sehen, würden wir gerade in den unteren Klassen anders mit ihnen umgehen, anders mit ihnen arbeiten und damit die Entwicklung von Kindern anders beeinflussen, als wir es derzeit tun. Inzwischen bin ich fest davon überzeugt, dass alle Kinder gut lernen können, und dass es keine dummen Kinder gibt. Aber wir produzieren Versager oder besser: Das System lässt uns Versager produzieren.
    Wie ich lernte — eine Biografie meiner Entwicklung
    Schon in sehr jungen Jahren habe ich begonnen, mich mit dem Lernen und Lehren zu beschäftigen. Aufgewachsen in einer Mathematiker—Familie und so schon früh von der Leidenschaft meines Vaters für Zahlenspiele und Knobeleien angesteckt, fielen mir das Rechnen und das logische Denken recht leicht — im Gegensatz zu manchen Mitschülern, die mich immer häufiger um das Erklären von Aufgaben baten oder einfach um die Erlaubnis, meine Hausaufgaben abzuschreiben. Später verdiente ich mir oft ein paar Mark mit Nachhilfe dazu. Mir wurde schnell klar, dass die wenigsten Probleme tatsächlich im Fachlichen lagen. Oft waren meine Altersgefährten schon so fest davon überzeugt, „das sowieso nicht zu können“, dass sie gar nicht erst damit anfingen oder sich nicht die für die Aufgabe nötige Zeit nahmen und sehr schnell resignierten. Oft fehlte ihnen eine Struktur, eine Ordnung in ihrem Denken, oder sie hatten die hinter der Aufgabe liegenden Prinzipien nicht verstanden, sodass sie nicht auf die notwendigen Bausteine zugreifen und damit arbeiten konnten.
    Dieser innere Zustand gleicht einem Kinderzimmer, in dem alles durcheinanderliegt, statt aufgeräumt und griffbereit zu sein. Die Kinder verfügten über isoliertes Wissen und Kenntnisse, konnten diese aber nicht zusammenfügen. Oder es zeigte
sich, dass nur Kleinigkeiten fehlten, um ein Verständnis zu ermöglichen. Es wirkte wie ein Puzzle, in dem ein Teil fehlt, oder so, als gäbe es eine zu große Stufe an einer Stelle, an der noch eine Zwischenstufe hätte eingebaut werden müssen. Meine Aufgabe als erklärende Helferin sah ich nun darin, diese Kinder zu beobachten, wahrzunehmen, wie sie vorgingen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sie dachten. Ich hatte so etwas wie eine innere mathematische Landkarte. Dadurch wusste ich, was wo hingehört, wie man wohin kommt, was für eine Lösung wichtig ist. Mathematik unterscheidet sich in dieser Hinsicht meines Erachtens nicht wesentlich von vielen anderen Fächern — aber das sollte mir erst viel später bewusst werden. Leider, denn sonst hätte ich selbst für viele Prüfungen sicher auch anders gelernt. Deutlich war mir in jedem Fall schon damals, wie wenig es brachte, einfach möglichst viele Aufgaben zu lösen, und schon gar nicht, die Kinder diese vielen Aufgaben allein rechnen zu lassen, solange nicht klar war, an welchem Punkt welche Abzweigung, welches Planquadrat, welches Detail auf der inneren Landkarte eines Schülers fehlte. Zuerst musste herausgefunden werden, wo er auf einen falschen Weg abbog, an welcher Stelle er vielleicht verständliche, aber doch falsche Schlussfolgerungen zog.
    Auch in anderen Bereichen hatte ich als Jugendliche viel mit Kindern zu tun: Ich leitete Kindergruppen in der Kirche, organisierte und begleitete Kinderfreizeiten, trainierte Sportmannschaften und

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