Wasdunkelbleibt
atemlos.
»Unwahrscheinlich. Reale Orte sind vollkommen unwichtig. Yeah! Ich bin drin. Hinter ihm durch die Sperre geschlüpft. Das mache ich auf den Autobahnklos auch immer so. Wer zahlt denn 50 Cent fürs Pinkeln!«
Gebannt blickten wir auf den Bildschirm. Die Einteilung sah aus wie bei einem ganz normalen Diskussionsforum im Netz.
»Er nennt sich rekinom«, gab Cyn Auskunft. »Sehr hell ist der Junge ja nicht auf der Platte.«
»Was heißt das?«
»Moniker rückwärts buchstabiert. Moniker ist die Bezeichnung für einen Decknamen, mit dem ein Hacker sich im Netz bewegt. Seine Identität und seine Burka, beides zugleich.« Cyn deutete auf einen Eintrag, der gerade aufleuchtete.
Hi, rekinom. Wo steckt eigentlich Dv 0 ttny
heute? Fudge.
Keine Ahnung. rekinom.
»Das ist ein Sechser im Lotto!«, jubelte Cyn. »Mit seiner Hackeridentität kann ich nach ihm fahnden. Den kriegen wir, Mädels!« Sie lachte laut. »Lust auf ein Bier? So als Schlaftrunk?«
»Danke.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich möchte nach München. Ich will bei Nero vorbeischauen. So schnell wie möglich.«
»Sag mal!« Julianes Zeigefinger tippte auf Cyns Bildschirm. »Jemand fragt rekinom nach Dv 0 ttny. Will heißen, die beiden sind Kumpels?«
»Vielleicht nicht gerade Kumpels. Ich vermute, sie haben öfter zusammen gechattet. Und wurden dabei gesehen.«
31
25.11.2010
Er öffnete die Augen. Dazu brauchte er allen Mut. Lieber hatte er sich in den vergangenen Stunden auf seine Ohren verlassen, um herauszufinden, wo er war. Er ahnte es ohnehin: in einem Krankenhaus. Verschwommen sah er einen Ausschnitt des Zimmers und der Geräte, die ihn umgaben. Er schloss die Lider.
Ganz langsam kam die Erinnerung wieder. Wonckas Tiraden. Die Bäckerei. Er erinnerte sich an die Frau, die in ihrem Rollkragenpullover schwitzte und an den Teller mit einem Amerikaner.
Seit wann war er hier?
Nero war kalt. Er sah niemanden, den er um eine extra Decke bitten konnte. Irgendwo würde er nach der Nachtschwester klingeln können, aber er wusste nicht wo und er war zu erschöpft, um sich mit der Suche nach einem Klingelknopf zu befassen.
In seinem Kopf brodelte etwas. Kein Schmerz, gegen den man ein Aspirin nehmen könnte. Es kam ihm vielmehr so vor, als wenn sein Gehirn gerade erst die Arbeit aufnahm. Wie ein träger alter Dieselmotor.
Er hatte nicht mehr atmen können, hatte einen grauenvollen Schmerz in der Brust gefühlt … probeweise tat Nero ein paar tiefe Atemzüge. Es funktionierte. Nichts tat weh.
Wo war Kea? Ob sie Bescheid wusste? Ob es sie überhaupt interessierte? Er döste ein.
In seinem Traum sah er Leonor. Sie blickte ihn an und fragte: »Was willst du eigentlich? Du gibst vor, dass dein privates Glück dir wichtiger ist als der Beruf. Aber du verhältst dich genau umgekehrt.«
Verstand Leonor? Wäre sie nicht gestorben, hätte nicht dieser Irrsinnige im Supermarkt um sich geballert – hätte, hätte… der Rhythmus dieser beiden Silben schleuderte Nero aus seinem Traum. Er riss die Augen auf und sah einen Pfleger, der neben ihm stand und einen Ausdruck aus einem der Apparate nahm.
»Wie geht es Ihnen, Herr Keller?«, fragte er. Er war sehr jung, vielleicht 20, hatte strohblondes Haar und traurige Augen. Der Klang seiner Stimme trieb Nero die Tränen in die Augen. Er klang einfach freundlich und teilnahmsvoll. So eine Stimme hatte Nero seit Wochen nicht mehr gehört.
»Ich weiß nicht.« Nero machte eine lange Pause.
»Sie wurden mit einem Herzinfarkt hier eingeliefert. Gott sei Dank nur ein leichter.«
Wenn sich ein leichter Infarkt so verheerend anfühlte, wie würde es mit einem schweren sein?
»Ich?«, fragte er, als wollten die Worte ihm nicht gehorchen. Er wollte wissen, wann komme ich hier raus, wo ist Kea, wann kann ich wieder arbeiten.
Der Pfleger lächelte. Er breitete eine Decke über Nero und sagte: »Ja, Sie. Kommt in den besten Familien vor, machen Sie sich keine Vorwürfe.«
Keine Vorwürfe. Nero blinzelte. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Offenbar hatte er in den letzten Monaten seines Lebens nichts anderes getan, als sich selbst für alle möglichen Dinge zu verurteilen.
»Ihre Lebensgefährtin wartet draußen. Möchten Sie sie sehen?«
»Kea?« Hatte er eine Lebensgefährtin? Mit welcher Vehemenz er allein gegen das Wort gekämpft hatte, anstatt Keas Gegenwart zu genießen.
»Natürlich«, sagte er. Seine Stimme brach. Er räusperte sich. Das Zimmer verschwamm.
32
Markus Freiflug
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