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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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Slopers Widerstand bildete die unbekannte Größe in dem Problem, das er zu lösen hatte. Der natürliche Weg, es zu lösen, hätte darin bestanden, Catherine zu heiraten. Doch in der Mathematik gibt es viele abgekürzte Verfahren, und Morris war nicht ohne Zuversicht, daß er noch auf eines kommen werde. Als Catherine ihn beim Wort nahm und einverstanden war, auf den Versuch zu verzichten, ihren Vater zu erweichen, da zog er sich, wie bereits erwähnt, hinreichend geschickt zurück und ließ den Hochzeitstag noch offen. Ihr Vertrauen in seine Aufrichtigkeit war derart vollkommen, daß sie gar nicht |172| fähig war zu argwöhnen, er könnte mit ihr spielen; auch ihr augenblickliches Problem war anderer Art. Das arme Mädchen besaß ein bewundernswertes Ehrgefühl, und von dem Moment an, wo Catherine dazu entschlossen war, gegen den Wunsch ihres Vaters zu verstoßen, hatte sie den Eindruck, daß sie kein Recht mehr habe, seinen Schutz zu genießen. Ihr Gewissen verlangte es, nur so lange unter seinem Dach zu leben, als sie sich seiner Lebensweisheit fügte. Eine solche Stellung hatte sehr viel Glanzvolles an sich, doch die arme Catherine fühlte, daß sie ihren Anspruch darauf verwirkt habe. Sie hatte ihr Schicksal mit dem eines jungen Mannes verbunden, vor dem er sie nachdrücklich gewarnt hatte, und die Vereinbarung gebrochen, unter der er ihr ein glückliches Heim bot. Da sie den jungen Mann nicht aufgeben konnte, mußte sie ihr Zuhause verlassen, und je früher der Gegenstand ihrer Gunst ihr ein anderes bot, um so früher würde sich die peinvolle Verwicklung ihrer Lage auflösen. Das war eine exakte Schlußfolgerung; aber sie war vermengt mit unermeßlich viel rein instinktivem Schuldgefühl. Catherines Tage waren damals bedrückend und die Last mancher ihrer Stunden war für sie schier unerträglich. Ihr Vater sah sie nie an und sprach nie mit ihr. Er wußte genau, was er damit tat, und es war ein Teil seines Planes. Sie sah ihn so oft an, wie sie es wagte (denn sie fürchtete, den Eindruck zu erwecken, sie wolle, daß er sie beobachte), und sie bedauerte ihn wegen des Kummers, den sie ihm bereitet hatte. Sie hielt den Kopf hoch, rührte die Hände und ging ihren täglichen Verrichtungen nach; und wenn der Stand der Dinge am Washington Square unerträglich schien, schloß sie die Augen und gestattete sich, im Geist den Mann zu sehen, um dessentwillen sie ein ehrwürdiges Gesetz gebrochen hatte.
    |173| Von den drei Personen am Washington Square zeigte Mrs. Penniman weitaus am meisten das Verhalten, das einer schwerwiegenden Krise angemessen ist. Wenn sich Catherine ruhig verhielt, so war sie sozusagen die Ruhe in Person, und der mitleiderweckende Eindruck, den sie machte, was aber von niemandem beachtet wurde, war gänzlich ungekünstelt und unbeabsichtigt. Wenn der Doktor steif und trocken war und völlig gleichgültig gegenüber der Anwesenheit seiner Hausgenossen, geschah das so leichthin, gewandt und unbekümmert, daß man ihn wohl gut hätte kennen müssen, um zu bemerken, daß er es, im ganzen gesehen, recht genoß, so wenig umgänglich sein zu müssen. Mrs. Penniman hingegen war mit Bedacht reserviert und bedeutungsvoll schweigsam. Ihre wohlüberlegten Bewegungen, auf die sie sich beschränkte, riefen ein stärkeres Rascheln hervor, und wenn sie im Zusammenhang mit irgendeinem belanglosen Vorkommnis gelegentlich sprach, gab sie sich den Anschein, als meine sie etwas weit Tiefgründigeres, als ihre Worte besagten. Catherine und ihr Vater hatten kein Wort mehr gewechselt seit jenem Abend, an dem sie ihn in seinem Arbeitszimmer aufgesucht hatte. Sie hatte ihm etwas zu sagen – es schien ihr, als sollte sie es sagen –, doch sie hielt es zurück, aus Angst, ihn zu erzürnen. Er hatte ihr ebenfalls etwas zu sagen, doch er war entschlossen, nicht als erster zu sprechen. Wie wir wissen, war er interessiert zu sehen, ob sie, sich selbst überlassen, »hängenbleiben« würde. Schließlich erzählte sie ihm, daß sie Morris Townsend wieder getroffen habe und daß ihre Beziehung gleich geblieben sei.
    »Ich denke, wir werden heiraten – ziemlich bald. Und wahrscheinlich treffe ich ihn inzwischen ziemlich oft, etwa einmal in der Woche – nicht öfter.«
    |174| Der Doktor sah sie kalt von Kopf bis Fuß an, als wäre sie eine Fremde. Es war das erste Mal seit einer Woche, daß seine Augen auf ihr ruhten, was glückverheißend gewesen wäre, falls das ihr Ausdruck gewesen sein sollte. »Warum nicht dreimal am

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