Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
nichts Dummes tun.«
»Camel abladen?«, fragt Camel. »Denkt ihr so über mich?«
»Im Moment schon, ja!«, schnauzt Walter. »Und dafür solltest du
dankbar sein. Was zum Teufel würde wohl mit dir passieren, wenn wir jetzt
abhauen? Hmmm?«
Keine Antwort.
Walter seufzt. »Was mit Marlena passiert, ist schrecklich, aber um
Himmels willen! Wenn wir vor Providence gehen, ist Camel erledigt. Sie muss in
den nächsten drei Tagen selbst auf sich aufpassen. Verdammt, das hat sie vier
Jahre lang gemacht. Ich glaube, sie schafft auch noch drei Tage.«
»Sie ist schwanger, Walter.«
»Was?«
Nach langem Schweigen blicke ich auf.
Walter runzelt die Stirn. »Bist du sicher?«
»Sie hat es mir gesagt.« Er mustert mich ausgiebig. Ich versuche,
seinem Blick standzuhalten, aber meine Augen zucken rhythmisch zur Seite.
»Ein Grund mehr, jetzt vorsichtig zu sein. Jacob, sieh mich an!«
»Das versuche ich doch!«, sage ich.
»Wir verschwinden hier. Aber wenn wir es alle schaffen wollen,
müssen wir es richtig angehen. Wir können nichts, gar nichts unternehmen,
solange Camel hier ist. Je eher du dich an den Gedanken gewöhnst, desto
besser.«
Von der Pritsche erklingt ein Schluchzen. Walter sieht sich um. »Sei
ruhig, Camel! Sie würden dich nicht aufnehmen, wenn sie dir nicht verziehen
hätten. Oder willst du lieber aus dem Zug geworfen werden?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, jammert Camel.
Walter wendet sich wieder an mich. »Sieh mich an, Jacob. Sieh mich
an.« Als ich es tue, fährt er fort: »Sie wird mit ihm fertig. Ich sag dir, sie
wird mit ihm fertig. Sie ist die Einzige, die das kann. Sie weiß, was auf dem
Spiel steht. Es sind nur noch drei Tage.«
»Und dann? Du hast es selbst gesagt, wir können nirgendwo hin.«
Wütend wendet er sich kurz ab. »Hast du die Situation eigentlich
richtig begriffen, Jacob? Manchmal bezweifle ich das.«
»Natürlich begreife ich sie! Mir gefallen nur die Möglichkeiten
nicht, die uns bleiben.«
»Mir auch nicht. Aber darum müssen wir uns wie gesagt später
kümmern. Jetzt sollten wir uns erst mal darauf konzentrieren, hier lebend
rauszukommen.«
Camel schluchzt und schnieft sich in den Schlaf, obwohl Walter
ihm immer wieder versichert, seine Familie würde ihn mit offenen Armen
aufnehmen.
Schließlich döst er ein. Walter sieht noch mal nach ihm, bevor er
die Lampe löscht. Er und Queenie ziehen sich auf die Pferdedecke in der Ecke
zurück. Ein paar Minuten später fängt er an zu schnarchen.
Vorsichtig stehe ich auf, dabei teste ich bei jeder Etappe meine
Balance aus. Nachdem ich mich erfolgreich hochgekämpft habe, setze ich
zögerlich einen Fuß vor. Mir ist schwindlig, aber ich glaube, ich komme
zurecht. Als ich auch mehrere Schritte hintereinander machen kann, gehe ich
hinüber zur Truhe.
Sechs Minuten später krieche ich auf Händen und Knien über das Dach
des Pferdewagens. Walters Messer klemmt zwischen meinen Zähnen.
Was sich im Zug wie ein sanftes Klappern anhört, schwillt hier oben
zu einem gewaltigen Dröhnen an. In der nächsten Kurve werden die Waggons heftig
durchgeschüttelt, und ich klammere mich an die Handläufe auf dem Dach, bis die
Schienen wieder gerade verlaufen.
Am Ende des Wagens lege ich eine Pause ein, um meine Möglichkeiten
abzuwägen. Theoretisch könnte ich die Leiter hinuntersteigen, auf die Plattform
hinüberspringen und bis zu meinem Ziel durch die Wagen laufen. Aber ich kann
nicht riskieren, gesehen zu werden.
So oder so.
Mit dem Messer zwischen den Zähnen stehe ich auf. Meine Beine sind
gespreizt, die Knie gebeugt, und wie ein Seiltänzer versuche ich mich mit
ausgestreckten Armen schwankend auszubalancieren.
Der Abstand zum nächsten Wagen erscheint mir gewaltig, ein großer
Sprung über die Ewigkeit. Ich konzentriere mich und drücke die Zunge gegen das
bittere Metall der Klinge. Dann springe ich, ich mobilisiere meine ganze Kraft,
um durch die Luft zu schnellen. Dabei rudere ich wild mit Armen und Beinen und
stelle mich darauf ein, mich an irgendetwas, egal was, festzuhalten, falls ich
danebenspringen sollte.
Ich krache auf das Wagendach. Mit dem Messer im Mund und japsend wie
ein Hund klammere ich mich an den Handläufen fest. Etwas Warmes rinnt von
meinem Mundwinkel herab. Im Knien nehme ich das Messer in die Hand und lecke
mir das Blut von den Lippen. Als ich mir das Messer wieder zwischen die Zähne
klemme, achte ich darauf, die Lippen zurückzuziehen.
So überquere ich fünf Schlafwagen. Bei jedem neuen Sprung
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