Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
dann
ist es kein Wunder mehr, wenn ich vergesse, wo manche von ihnen hingehören.
Auch ist es nicht gerade hilfreich, dass sie sich abwechseln mit den Besuchen.
Selbst wenn ich mir eine Gruppe einprägen kann, kommt sie wahrscheinlich erst
acht oder neun Monate später wieder, und bis dahin habe ich alles vergessen,
was ich vielleicht einmal wusste.
Was heute passiert ist, war allerdings etwas ganz anderes, und es
war viel, viel erschreckender.
Was in Gottes Namen habe ich gesagt?
Ich schließe die Augen und tauche in die abgelegenen Winkel meines
Verstandes ein. Sie sind undeutlich geworden. Mein Gehirn ist wie ein
Universum, dessen Gase an den Rändern immer flüchtiger werden. Aber es löst
sich nicht im Nichts auf. Da draußen ist etwas, das spüre ich, und es lauert
gerade außerhalb meiner Reichweite – Gott steh mir bei, ich gleite wieder auf
diesen weit offenen Schlund zu.
Siebzehn
Während August Rosie Gott weiß was antut, kauern Marlena
und ich in ihrem Garderobenzelt im Gras, wie zwei Äffchen klammern wir uns
aneinander. Ich sage kaum etwas, sondern drücke nur ihren Kopf gegen meine
Brust, während sie mir hastig flüsternd ihre Geschichte erzählt.
Sie erzählt davon, wie sie August kennengelernt hat – sie war
siebzehn, und ihr war gerade aufgegangen, dass die Junggesellen, die in letzter
Zeit reihenweise bei ihnen zu Abend gegessen hatten, ihr als potentielle
Ehemänner vorgestellt wurden. Als ein Bankangestellter in mittleren Jahren mit
fliehendem Kinn, schütterem Haar und dürren Fingern ein Mal zu häufig zum Essen
erschien, hatte sie das Gefühl, dass rings um sie die Türen zu ihrer Zukunft
zuschlugen.
Doch gerade als der Bankangestellte etwas näselte, das Marlena
erblassen und entsetzt in ihre Muschelsuppe starren ließ, wurde die ganze Stadt
mit Zirkusplakaten zugepflastert. Das Schicksal nahm seinen Lauf. Benzinis Spektakulärste Show der Welt zuckelte in genau
diesem Moment auf sie zu, im Gepäck eine sehr reale Fantasie und für Marlena
einen Ausweg, der sich als ebenso romantisch wie schrecklich herausstellen
sollte.
Zwei Tage danach unternahm die Familie L’Arche bei schönstem
Sonnenschein einen Ausflug zum Zirkus. Marlena stand im Menageriezelt vor einer
Reihe atemberaubender schwarzer und weißer Araber, als August sie ansprach.
Ihre Eltern waren schon zu den Raubkatzen weitergegangen, sie ahnten nichts von
der Macht, die gerade in ihr Leben trat.
August war eine echte Naturgewalt, charmant, umgänglich und höllisch
gut aussehend. In seinem makellosen Aufzug aus strahlend weißen Reithosen,
Zylinder und Frack verströmte er sowohl Autorität als auch unwiderstehliches
Charisma. Innerhalb weniger Minuten hatte er die Zusage für ein weiteres
Treffen erhalten und verschwand, bevor sich das Ehepaar L’Arche wieder zu
seiner Tochter gesellte.
Als sie ihn später in einer Kunstgalerie wiedertraf, machte er ihr
ernsthaft den Hof. Er war zwölf Jahre älter als sie und auf eine Weise
bezaubernd, wie es nur ein Stallmeister sein kann. Noch bevor dieses Treffen zu
Ende ging, hielt er um ihre Hand an.
Er war charmant und hartnäckig. Er weigerte sich weiterzureisen,
bevor sie ihn geheiratet hatte. Er unterhielt sie mit Geschichten darüber, wie
verzweifelt Onkel Al war, und Onkel Al selbst legte ein gutes Wort für August
ein. Sie hatten bereits zwei Stationen ausgelassen. Ein Zirkus konnte nicht
überleben, wenn er seine Route über den Haufen warf. Natürlich war das ein
wichtiger Schritt, aber sie verstand doch sicher, welchen Einfluss es auf den
Zirkus hatte und dass unzählige Schicksale davon abhingen, dass sie die
richtige Entscheidung traf.
Die siebzehnjährige Marlena stellte sich drei weitere Abende lang
ihre Zukunft in Boston vor, am vierten packte sie einen Koffer.
Als sie an diesen Punkt ihrer Geschichte gelangt, zerfließt sie in
Tränen. Ich halte sie noch immer in den Armen und wiege sie vor und zurück.
Irgendwann löst sie sich von mir und wischt sich über die Augen.
»Geh lieber«, sagt sie.
»Ich will nicht gehen.«
Wimmernd streckt sie den Arm aus, um mir mit dem Handrücken über die
Wange zu streichen.
»Ich möchte dich wiedersehen«, sage ich.
»Du siehst mich doch jeden Tag.«
»Du weißt, was ich meine.«
Sie schweigt lange. Mit gesenktem Blick öffnet sie mehrmals den
Mund, bevor sie schließlich sagt: »Ich kann nicht.«
»Marlena, um Himmels willen …«
»Ich kann einfach nicht. Ich bin verheiratet. Wie man sich bettet,
so liegt man.
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