Wasser-Speier
die überall herumhoc k ten. Iris starrte einem der grotesken Steinungeheuer ins Maul, und es bedurfte jeder Unze ihres schwachen und schwindenden Mutes, um nicht vor Furcht und Ekel laut loszuschreien. Diese steinernen Augen schienen ihr die Schleier der Illusion vom Gesicht zu re i ßen. Wußten die Ungeheuer etwa um ihr Geheimnis?
Sie erblickte den gefürchteten Schmiedeamboß mitten auf der Schwarzen Heide. Sie hatte erfahren, daß alle Sklaven beim Ve r kauf »auf dem Amboß verheiratet« wurden: Dort erhielten sie neue, dauerhafte Kragen aus Eisen, mit Metallschlaufen, um Ke t ten hindurchzuführen. Sollte sie selbst erst einmal auf diese Weise gefesselt werden, würde keine einzige ihrer Illusionen sie daraus befreien können. Andererseits konnte sie noch nicht fliehen, und das nicht nur wegen des Eisens an ihrem linken Handgelenk, das sie mit den anderen Mitgliedern ihrer armseligen Gruppe verband. Denn sie hatte noch nicht die Identität des Sklavenmeisters in E r fahrung gebracht. Wenn sie diesen Mann erst einmal entlarvte und dem König davon Mitteilung machte, würde man ihn festnehmen, und die gesamte Sklavenindustrie würde zusammenbrechen. G e lang ihr dies jedoch nicht, würde die Sklaverei sich fortsetzen. Ihr Auftrag war also erst erfüllt, wenn sie in Erfahrung gebracht hatte, woran alle anderen Agenten des Königs bisher gescheitert waren. So war Iris durch ihre Mission ebenso gefesselt wie durch die Ke t ten selbst.
Sie marschierten an einem massiven Steinquader vorbei. Er wies dunkle Flecken auf: die Überreste zahlloser Enthauptungen von Sklaven, die versucht hatten, sich aufzulehnen; oder die zu schwach oder zu faul gewesen waren, um so hart zu arbeiten, wie man es von ihnen verlangte; oder die einfach nur Pech gehabt ha t ten. Iris meinte, Mulden im Staub erkennen zu können, wo ihre Köpfe aufgeprallt waren. »Lang lebe Xanth«, flüsterte sie unhö r bar, um sich ein kleines bißchen Mut zu machen. Wahrlich, dachte sie, Rache ist das Herz der Gerechtigkeit! Inbrünstig wünschte sie sich, den Tag noch zu erleben, da sich der Sklavenmeister selbst auf diesem grausigen Quader ausstrecken mußte.
Man brachte die Gefangenen zu einem steilen, kahlen Berghang, wo sie mehrere dunkle Höhlen bemerkten. Dann teilte man sie in miteinander verkettete Gruppen von vier bis fünf Personen ein und schob sie unsanft hinein, immer zwei Kettenmannschaften pro Höhle. Schließlich schlossen sich scheppernd Eisenholzgitter und sperrten sie ein. Das also sollte ihr Nachtquartier werden.
Iris entdeckte ein Büschel schmutziges Stroh am Boden und formte daraus eine Matratze. Dann legte sie sich gemeinsam mit ihren Kettengenossinnen darauf, drei Mädchen vor dem Erwac h senenverschwörungsalter. Sie tröstete die weinenden Geschöpfe, so gut sie konnte, und verlieh dem Stroh die Illusion sanfter, wa r mer Daunen, worauf die Kinder sich beruhigten und einschliefen, ohne zu merken, wo diese plötzliche Bequemlichkeit herrührte. Keine von ihnen wußte, welches Schicksal der morgige Tag berei t halten würde.
Doch Iris wurde weder geköpft noch sofort in die Sklaverei ve r kauft. Es schien, als wäre sie ein Teil einer Gruppe, die man für eine spätere Gelegenheit in Reserve hielt. Sie wurde nicht einmal mißhandelt; wahrscheinlich, weil dies die zarte, empfindliche Schönheit ihres Illusionsaussehens verdorben hätte. Die Sklave n händler meinten, sie zu einem hervorragenden Preis verkaufen zu können, sofern sie bei der Vermarktung die gebotene Sorgfalt wa l ten ließen, und so überstürzten sie nichts. Und der Sklavenmeister erschien auch nicht. So nahm das Leben seinen gedämpften Lauf.
Eines Tages saß Iris zusammen mit mehreren anderen Leiden s genossinnen an einem kleinen, kalten grauen Steintisch im dunke l blauen Schatten eines lieblich duftenden Eukalyptusbaumes vor den Küchenhöhlen, die auf den Schwarzheideplatz zeigten. Z u sammen mit den an sie geketteten Kindern trank Iris Sodawasser mit einem zarten Schlimonengeschmack. In Wirklichkeit handelte es sich zwar nur um gewöhnliches Wasser, doch die Kinder hatten schon bald gelernt, die Illusionen, die ihnen das Leben ein wenig erträglicher machten, weder preiszugeben noch zu hinterfragen. Iris schuf auch nie irgendwelche offensichtlichen Illusionen, und schon gar nicht, wenn ein Sklaventreiber sich in der Nähe befand oder sie beobachtete, und niemand von ihnen ließ zumindest nach außen einen Zweifel daran, daß ihr Leben eine einzige Qual
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