Wasser-Speier
fielen die Hagelkörner nur schleppend in die Tiefe, als prallten sie langsam vom Boden ab und rollten gemächlich davon. Der heulende Wind heulte tiefer, fast so, als wäre er müde, und zauste das Laubwerk des Baumes.
Iris wußte, daß noch immer Tag herrschte, doch inzwischen b e gann eine gewaltige Dunkelheit alles einzuhüllen. Das lag teilweise, wie Iris erkannte, an der Dichte der furchtbaren Wolke, aber das konnte nicht alles sein. Die Kinder sahen sich mit furchtsamen Blicken um; selbst die kleine Überraschung wirkte eingeschüchtert. Iris konnte es ihnen nicht verdenken; denn tatsächlich raubte e i nem dieses Naturereignis den letzten Nerv. Sie wußte, da sie sich niemals in einen solchen Sturm hätte hinausbegeben dürfen, denn einem solchen Wetter war nie zu trauen. Aber wo kam nur die Dunkelheit her?
Da erkannte sie, daß es an dem Zeitbaum liegen mußte. Der bremste das Licht selbst, so daß nicht genug bis zu diesem Punkt durchdrang, wodurch die Dunkelheit ihre Chance bekam. Wenn sie mehr Licht haben wollten, würden sie sich vom Zeitbaum en t fernen müssen. Sie konnten hier ohnehin nicht bleiben; denn i n zwischen häuften sich die Hagelkörner um ihre Füße, daß die Z e hen von tödlicher Kälte ergriffen wurden. Dieser Unterschlupf bot in Wirklichkeit keine Sicherheit.
»K-Kinder«, sagte Iris mit klappernden Zähnen. »Wir m-müssen weiter, bev-vor wir n-noch erf-frieren. Ich m-mache ein L-Licht, um uns z-zum Speisesaal z-zu f-führen.«
Stumpfsinnig nickten sie. Selbst die Sklaverei erschien ihnen noch besser als diese Kälte, die ihnen bis in die Knochen fuhr.
Da geschah etwas halbwegs Gutes: Die Handschelle an Iris’ li n kem Handgelenk wurde plötzlich stumpf, schrumpfte zusammen und öffnete sich ein Stück. Der Zeitbaum und die Kälte setzten der Handschelle offenbar mehr zu, als sie aushalten konnte; de s halb ging sie nun auseinander.
»Kinder!« rief Iris. »Die Handschellen gehen auf! Vielleicht kö n nen wir sie abstreifen!«
Sie stellten sich im Kreis auf und rissen an der Kette, die sie mi t einander verband, bearbeiteten sie mit Stöcken und Steinen, bis die Handschellen sich nach und nach öffneten. Eine nach der anderen bekamen sie auf und streiften sie ab, befreiten die kleinen Hände. Jetzt waren sie nicht mehr körperlich aneinander gefesselt.
Doch gesellschaftlich und praktisch gesehen blieben sie es immer noch. Keiner von ihnen konnte diesen Sturm allein überstehen, und die Kinder würden mit Sicherheit ums Leben kommen, falls sie vor dem Unwetter flohen und in die umgebende Wildnis h i nausrannten. Iris selbst ging es auch kaum besser, denn ihre Illus i onsmacht konnte an der Grundsituation kaum etwas ändern.
»Kinder, wir sind erst zur Hälfte frei«, verkündete sie. »Wir mü s sen erst einmal in den Speisesaal und uns aufwärmen, bevor wir auch nur an Flucht denken dürfen. Ich werde Handschellen und Ketten aus Illusion fertigen. Ihr müßt so tun, als wären sie echt, bis sich uns eine gute Fluchtmöglichkeit bietet. Habt ihr mich ve r standen?«
Sie nickten. Sie verstanden nur zu gut. Sie wußten genau, daß die Ketten nur ein Teil dessen waren, was sie gefangenhielt. Sonst hätten sie auch schon mit Iris zusammen als Gruppe fliehen kö n nen. Die Kinder verstanden ihre Rolle zu spielen. Sie hatten i m merhin schon gelernt, in dieser furchtbaren Lage zu überleben.
Natürlich wollte Iris noch gar nicht fliehen; denn sie mußte ja erst noch den Sklavenmeister identifizieren. Aber vielleicht zeigte dieser sich ja noch, bevor sich eine gute Gelegenheit bot, um z u sammen mit den Kindern das Weite zu suchen.
Iris erschuf eine helle Illusionslampe und ließ sie voranschweben. Sie wußte selbst nicht mehr so genau, in welcher Richtung der Speisesaal lag, doch würde es überall besser sein als hier. Dann fiel ihr etwas ein, und sie ließ die Lampe sich senken, bis sie dicht über dem mit Hagelkörnern bedeckten Boden schwebte und ihn au f hellte, wobei sie wie eine kleine Sonne gleißte. So brachte sie das umgebende Eis zum Schmelzen, was ihnen wiederum den Weg freimachte. Nur gut, daß die Hagelkörner nicht merkten, daß es sich bei dem Licht um bloße Illusion handelte!
Sie folgten dem Licht, ohne sich allzu viele Gedanken darüber zu machen, wohin es sie eigentlich führte. Um sie herum tobte noch immer der Sturm und verhüllte alles andere, doch die kleine Kugel aus Licht spendete ihnen Trost. Sie schwebte mal hierhin, mal dorthin, vom Wind gezaust,
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