Wasser-Speier
nicht ausmachen. Also klopfte Gary wieder an die Tür.
Die ging auf. »Ja?« fragte Rapunzel, als wären sie sich noch nie begegnet.
»Wir scheinen deine Tochter verloren zu haben«, verkündete G a ry verlegen.
»Ach, das geht schon in Ordnung. Wir verlieren sie ständig. Da ist eins ihrer Talente.«
»Eins ihrer…?«
»Wenn sie nicht will, daß man sie findet, findet sie niemand«, e r klärte Rapunzel. »Sie hat verschiedene Methoden, um verlorenz u gehen.«
»Aber wie sollen wir sie denn dann finden?«
»Ihr müßt einfach dafür sorgen, daß sie gefunden werden will. Habt ihr irgend etwas, das sie interessieren könnte?«
Gary fiel nichts dazu ein, doch Iris kam ihm zu Hilfe. »Ich kann sehr interessante Illusionen hervorbringen.«
Da erschien Überraschung aufs neue. »Kannst du das? Zeig mal!«
Vor der Zauberin erschien das winzige Abbild der Golemhütte mitten in der Luft, komplett mit winzigen Figuren aller vier Bete i ligten. Die ganze Sache sah äußerst wirklichkeitsgetreu aus.
»He!« rief das Kind und begann zu schielen. »Das gefällt mir!« Und plötzlich erschien vor dem Mädchen ein noch winzigeres Abbild mit noch winzigeren Gestalten.
Iris starrte sie fassungslos an. »Aber ich bin doch die einzige, die solche Illusionen hervorbringen kann!« rief sie.
»Das tut mir aber leid«, sagte Überraschung, und ihr Abbild ve r schwand.
»Sie tut ebenfalls alles, was sie will«, erklärte Rapunzel. »Wir li e ben sie wirklich, aber wir werden einfach nicht mit ihr fertig. Als sie dann noch in einem Anfall von Übermut unser Keulenhaus umgeworfen hat, haben wir es aufgegeben und den Guten Magier um Hilfe ersucht. Er sagte, er würde uns einen Erzieher schicken. Wir sind wirklich froh, daß du gekommen bist! Bring die Kleine zurück, wenn sie gezähmt ist.« Dann schloß Rapunzel wieder die Tür.
»Aber…«, begann Gary hilflos. Doch er begriff, daß es zwecklos war. Dies war sein Dienst für den Guten Magier, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als seiner Aufgabe gerecht zu werden, so gut es ging. Obwohl er völlig unfähig dazu war. Das kleine Mädchen war nicht einmal bösartig, nur völlig verwildert.
»Und ich soll dir eine Hilfe sein«, bemerkte Iris düster. »Ist die Jugend das wert?«
»Jugend!« rief Überraschung und kreuzte die Augen. Plötzlich sah Iris so alt aus wie sie selbst: sechs. Um sie herum lag ein Ha u fen Kleider, die offensichtlich nicht mit ihr zusammen g e schrumpft waren. Aber die Sachen hätten Iris sowieso nicht g e paßt, weil sie nun völlig andere Proportionen besaß.
Sie brauchte nur eine Augenblick, um zu begreifen, was gesch e hen war. »Überraschung, stell mich sofort wieder her!« sagte sie streng.
»Na gut«, meinte das kleine Mädchen reumütig. Iris erschien wieder in ihrer vollen Größe. Doch nun knubbelte ihre Kleidung sich in der Taille und ließ den Oberkörper frei. Seit er selbst Me n schengestalt angenommen hatte, hatte Gary keinen nackten weibl i chen Oberkörper zu sehen bekommen, und er fand ihn recht int e ressant.
»Gary! Schau sofort weg!« kreischte Iris. »Überraschung, stell auch meine Kleidung wieder her!«
Gary wollte sich abwenden und der gebieterischen Stimme g e horchen, doch noch bevor er damit fertig war, befand die Kle i dung der Zauberin sich wieder an Ort und Stelle, was jedes weitere Vorgehen unnötig machte.
»Warum hast du dich nicht einfach selbst mit Illusion gekleidet?« fragte Gary, während Iris ihre Kleidung zurechtrückte.
»Ich habe nicht daran gedacht«, gestand sie. »Aber die Angel e genheit muß genauer besprochen werden!« Sie wandte sich dem Kind zu. »Überraschung! So darfst du nicht mit anderen Leuten umspringen! Das ist nicht nett.«
»Warum nicht?« fragte Überraschung, und ihre süße kleine Stirn furchte sich verwundert.
»Ich hab’s doch gerade gesagt: Es ist nicht nett. Versprich mir, so was nicht wieder zu tun.«
Überraschung runzelte die Stirn. »Es macht aber Spaß.«
Gary wurde klar, daß sie wirklich vor einem Problem standen, wenn sie einem Kind mit Logik kommen wollten. Er erinnerte sich daran, wie man junge Wasserspeier zur Vernunft brachte. »Wenn du das noch einmal machst«, sagte er entschieden, »wird die Za u berin die Illusion eines Ungeheuers hervorbringen, das aussieht wie ein…« Er zögerte und überlegte, was ein Menschenkind o r dentlich erschrecken konnte, und griff nach dem erstbesten Stro h halm. »… wie ein großer, steinerner Wasserspeier.«
Iris
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