Wasser-Speier
sich auf, ganz wie Dämonen es taten. Dann platzte plötzlich ein Au g apfel aus dem Nichts. Kurz darauf wurde er von einem oberen und einem unteren Augenlid bedeckt.
»Immer noch nicht dasselbe«, wiederholte Gary. »Ich fürchte, wir haben die gesuchte Antwort.«
Überraschung brach in Tränen aus. Die Tränen verströmten, bi l deten eine sich ausdehnende Kugel und durchnäßten alles im Zimmer, Gary und Iris eingeschlossen. Die Tränen waren heiß und salzig.
Iris trat ans Bett, um das Kind zu trösten. »Es tut mir ja so leid, Liebes. Aber wir mußten es unbedingt in Erfahrung bringen.«
»Du mußt deine Magie aufsparen«, ergänzte Gary. »Für Zeiten, da du sie wirklich brauchst. Du hast genug davon, um ein Leben lang auszukommen, sofern du sparsam damit umgehst. Du darfst sie eben nicht vergeuden.«
Überraschung wirkte niedergeschlagen. Zum erstenmal verstand sie ihre eigene Beschränktheit. Sie hatte einen gewaltigen Re i fungsprozeß durchlaufen, aber auf die allerschmerzlichste Weise.
Gary machte kehrt und verließ betrübt den Raum. Er hatte seine Aufgabe als Lehrer erfüllt: Er hatte einem Kind das Herz gebr o chen.
Mentia erschien, als er gerade seine eigenen Gemächer betrat. »Jetzt wird sie kein Problem mehr sein, wenn sie wieder nach Ha u se zurückgekehrt ist«, sagte sie. »Sie wird ihre Magie nicht mehr unbeherrscht einsetzen.«
»Es ist so, als hätte ich sie geschlagen.«
»Das siehst du richtig«, stimmte Mentia ihm zu. Ihre Augen li e fen rot an. »Es tut mir leid, daß ich dich darum gebeten habe.«
»Es mußte sein.« Aber jetzt verschwamm ihm selbst der Blick.
»Dämonen weinen übrigens nie«, bemerkte sie völlig unzusa m menhängend.
»Wasserspeier auch nicht.«
Dann drückten sie sich aneinander, hielten sich fest und weinten gemeinsam. Was hätten sie sonst auch tun sollen?
Später kehrte Hanna zurück. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein prächtiges Abendkleid, das jede Andeutung des Militär i schen zunichte machte, die noch an ihr gehaftet haben mochte. »Das Abendessen ist serviert«, verkündete sie.
Gary starrte sie an. Allmählich begriff er die Anziehungskraft menschlicher Frauen. Wie ihr gelöstes Haar sich nach Art eines kleinen Mantels um die Architektur ihrer Schultern und ihres B u sens ergoß, und wie schon das bloße Atmen ihre Konturen ve r schieben konnte…
»Bin ich häßlich anzusehen?« erkundigte Hanna sich einen M o ment später.
»Ganz und gar nicht«, widersprach Gary hastig. »Ich habe nur über die Veränderung gestaunt.«
»Vielleicht werde ich mich später noch einmal für dich verä n dern«, murmelte sie. Dann machte sie kehrt und verließ das Zi m mer, wodurch sie unter Beweis stellte, daß sich auch die Konturen ihrer Hinterseite verschieben konnten. Auch das war Gary bisher bei keiner Frau aufgefallen. Bei genauerer Betrachtung erwiesen ihre Konturen sich tatsächlich als sehr viel faszinierender, als er sich hatte eingestehen wollen.
Sie blieb stehen und wandte sich anmutig ein Stück nach ihm um. »Kommst du, Gebieter Gar?«
Nachdenklich folgte er ihr. Er hätte nie gedacht, daß Hannah Barbarin auch diesen Aspekt aufzubieten hätte. Die Menschen überraschten ihn ständig aufs neue, und sie interessierten ihn auch immer mehr.
Draußen im Gang schlossen sich die anderen ihm an. Iris und Überraschung trugen wohlgeschnittene Königinnen- und Prinze s sinnenkleider, während Mentia unaufdringlich, aber recht attraktiv gekleidet war. Gary wußte ja, daß sie als Dämonin jede gewünschte Gestalt annehmen konnte, doch hier galt es für sie, eine bestimmte Rolle zu spielen, und das tat sie auf vollkommene Weise. Sie war die Gouvernante des Kindes; daher mußte sie diszipliniert und proper wirken, ohne jedoch an ästhetischer Anziehungskraft ei n zubüßen. Vereinfacht ausgedrückt: Sie sah großartig aus für eine Menschenfrau – die sie natürlich gar nicht war. Hiatus trug inzw i schen einen maßgeschneiderten Anzug, dessen hochgestellter Kr a gen und fallende Rockschöße recht elegant wirkten; er hatte sich plötzlich in einen etwas düsteren, aber anziehenden Mann verwa n delt.
Der Speisesaal war zur Feier des Tages geschmückt. An den Wänden hingen reichverzierte Webteppiche, während üppige Lä u fer den Boden bedeckten. In der Mitte des Saales stand ein gewa l tiger Tisch, mit einem Kranz blauer und grüner Rosen geschmückt und für fünf Personen gedeckt.
»Oh, ich darf aber nicht am Tisch mit Platz
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