Wasser zu Wein
geblümte Wachstuch auf dem Küchentisch, der mitten im Raum stand, war verkratzt und an den Kanten blankgescheuert. Das Polster der Stühle um den Tisch herum ächzte, wenn man sich setzte. In der Steinspüle hatte er schon fast ein halbes Dutzend Gläser zerdeppert, wenn er Beate beim Abwaschen half.
Und war das kleine, dunkle Wohnzimmer »gewohnte Umgebung« gewesen? In der guten Stube wurde nie geheizt, höchstens an Feiertagen, was dazu geführt hatte, daß der Stutzflügel, der dort stand, zwar immer staubfrei, aber völlig verstimmt war.
»Du willst ihn abschieben, wie ein altes, unnützes Möbelstück!« Beate hatte Tränen in den Augen gehabt.
»Ich denk an dich dabei, Beate!« Er hatte versucht, sie in den Arm zu nehmen.
Aber sie hatte sich wütend gesträubt. »Du denkst an dich! Nur an dich!«
Und damit hatte sie völlig recht gehabt. Er wollte nicht den Rest seines Lebens im Haus der Schwiegereltern verbringen. Er wollte nicht den Rest seines Lebens mit einer Krankenschwester verheiratet sein.
Plötzlich fiel ihm das Schlafzimmer in von der Lottes Wohnung ein. Vielleicht war es das, wovor er sich fürchtete: vor diesen erstickenden Bindungen, die Menschen nicht nur an die Vergangenheit schnürten, sondern auch im Zustand ewiger Unmündigkeit beließen. ›Solange Mami da ist, ist mein kleiner Junge noch ein kleiner Junge.‹
Er hatte um seine Mutter getrauert. Und sich dennoch auf eine eigentümliche Weise erleichtert gefühlt nach ihrem Tod: Er konnte endlich erwachsen werden. Manch einer wurde es nie.
Und Beate? »Sie haben uns ins Leben geholfen. Dann können wir ihnen auch aus dem Leben helfen«, hatte sie einmal resolut gesagt. Das verstand er. Was er nicht verstand, waren die Schuldgefühle, die sie nach dem Tod ihrer Mutter zu entwickeln schien und die sie mit Schnoddrigkeit zu übertönen versuchte. Was konnte sie für den Tod ihrer Mutter? Und warum fühlten sich Kinder noch bis ins Erwachsenenalter schuldig, wenn ihre Eltern starben? »Wir haben sie so lange nicht mehr besucht!« hatte Beate damals ganz verzweifelt geklagt. Als ob fleißigere Besuche Eva Lambert daran gehindert hätten, in der Kirche, in der Beates Mutter betete, ihre Handgranaten zu zünden!
Kosinski steckte sich eine weitere Zigarette an. Seit er mit Michael zusammenarbeitete, versuchte er, sich das notwendige Nikotin schon morgens reinzuziehen – nicht gerade die beste Art, den Tag zu beginnen. Er seufzte. Schuldgefühle – wer hatte sie nicht? Aber bei manchen Menschen überstiegen sie weit das Maß des Normalen. Die Schuldgefühle der Kinder, die Schuldgefühle der Mütter: Was hatte Eva Lambert gefühlt, deren Sohn so jung gestorben war – ausgerechnet an Aids? Und wie fühlte sich Elisabeth Klar, der Eva bei ihrem Todestrip die Tochter genommen hatte?
Kosinski sah das Gesicht Elisabeths vor sich, das weiße Gesicht mit den großen braunen Augen, umrahmt von dunklem Haar, das sie meistens streng nach hinten gebürstet trug. Sie war damals in Ohnmacht gefallen, als man ihr die Nachricht vom Tod ihrer Tochter überbrachte. Sie litt sichtlich noch immer unter dem Verlust. Sogar Elisabeth Klar fühlte sich schuldig am Tod Bettines. Wenn er es recht betrachtete, fühlten sich alle in Wingarten irgendwie schuldig.
Er erinnerte sich noch gut an die erste Zeit nach Evas spektakulärem Abgang. Die Erwähnung der Katastrophe reichte schon aus, um Menschen verstummen und verlegen in die Luft starren zu lassen. Der vernehmende Kollege hatte sich damals heftig beklagt über die ausweichenden Antworten und stereotypen Aussagen, mit denen man ihn abgespeist hatte.
»Sie war wohl depressiv.« Das war die Standardantwort. Und warum? »Der Sohn.« Das war die andere Antwort. Sein früher Tod. Und dann auch noch wegen dieser unaussprechlichen Krankheit. »Sie hat sich schuldig gefühlt.« Das war eine vom Muster abweichende Antwort gewesen. Er erinnerte sich daran, denn der ermittelnde Kollege hatte sich damals über diese Aussage verwundert gezeigt. »Wieso schuldig? Der Idiot hat sich das Virus beim Fixen geholt. Er hat sich den Stoff in Frankfurt besorgt und eine unsaubere Nadel erwischt. Dagegen kann kein Erziehungsberechtigter was machen.« Kosinski hatte diese herzlose Einschätzung erst irritiert. Aber wahrscheinlich hatte der Kollege recht – Eltern überschätzten sich, wenn sie sämtliche Verfehlungen ihrer Sprößlinge dem eigenen Konto zuschrieben.
Schuld schafft ewige Bindung, läßt nie mehr los, ist eine
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