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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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liegen. Er hatte Wingarten nur selten aus dieser Perspektive gesehen: aus der Perspektive des Besuchers, der als erstes die Dächer und Türme der »Traube« sah, des Fachwerkschlößchens, das wie ein verwunschenes Stück Mittelalter am Ufer thronte.
    Als er auf den Parkplatz hinter dem Hotel einbog, drangen leicht gedämpft die vertrauten Töne zu ihm herüber. Ein Personenzug fuhr auf der gegenüberliegenden Seite des Rheines pfeifend in den Tunnel ein. Hinter dem Haus stampfte ein Güterzug vorbei. Vom Fluß her klang das Flappen von Hubschrauberrotoren. Und über die Straße zwischen Fluß und Hotel fuhr ein Touristenbus.
    In der kühlen Hotelhalle fiel ihm auf, daß er das Gebäude das erste Mal als Erwachsener und als Gast betrat. Für einen Moment erwartete er, daß man ihn verscheuchen würde – wie früher, wenn er mit Sebastian durch die Gänge getobt war.
    Das junge Mädchen an der Rezeption begrüßte ihn freundlich, aber geistesabwesend. Der Oberkellner fragte nach seinen Wünschen für den Abend. Der Hausdiener griff nach seinem Gepäck. Alle schienen zu lauschen, so kam es ihm vor, gebannt und ängstlich zugleich. Alle schauten nach oben, als ein Stockwerk höher eine Tür ins Schloß fiel, hastige Schritte auf der breiten, mit Läufern belegten Treppe zu hören waren und etwas, das wie ein Stöhnen oder Aufschluchzen klang. Dann schienen sich alle einen Ruck zu geben, um sich, wie die Figuren auf einer Spieluhr, wieder in Bewegung zu setzen.
    Der Oberkellner schüttelte den Kopf und sagte »Sehr wohl«, das Mädchen an der Rezeption überreichte ihm den Zimmerschüssel, der Zimmerdiener ging vorneweg, ein unwillkürlich zögernder Paul Bremer hintendrein.
    Die »Traube« gehöre zu den schönsten Landgasthöfen Deutschlands, hatte er in den letzten Jahren immer wieder gelesen. Von einer gelungenen Mischung aus Alt und Neu war da meistens die Rede. Die muffige Düsternis jedenfalls, die er erinnerte, war gewichen – auch wenn der ausgestopfte Elchkopf noch immer in der Halle an der Wand hing. Die Abendsonne fiel durch das bunte Bleiglasfenster auf halber Höhe der Treppe und ließ die holzgetäfelten Wände honigbraun leuchten. Die Zeiger auf dem emaillierten Zifferblatt der Standuhr vor seiner Zimmertür zeigten zehn vor drei, das Pendel bewegte sich nicht. Der Dielenboden knarrte leise mit jedem seiner Schritte.
    Das Zimmer war kühl, durch die offenstehende Balkontür wehte ein Windhauch hinüber, die Zudecke auf dem Bett unter dem samtroten Baldachin war für die Nacht zurückgeschlagen. Bremer räumte seine Toilettenutensilien auf die Konsole über dem ausladenden weißen Waschbecken mit den Messingarmaturen. Das Bad war luxuriös, in der Badewanne war Platz für eine Kleinfamilie. Noch bevor er seine Reisetasche ausgepackt hatte, trat er auf den Balkon. Über der hölzernen Balustrade des winzigen Söllers mit den zwei weißen Stühlen schob sich ein elegantes, weißgrün gestrichenes Schiff in den Blick, ein restaurierter alter Raddampfer, wie er mit kindlicher Begeisterung sah.
    Er setzte sich auf den Stuhl mit dem gestreiften Kissen und versenkte sich in den Anblick des majestätisch dahinfließenden Flusses, der grünen Hügel auf der anderen Seite und der Flugzeuge, die weiße Streifen auf den blaßblauen Himmel zeichneten.
    Er spürte, wie sich ein Gefühl tiefen Friedens in ihm ausbreitete. Er war angekommen.

13
    Wingarten am Rhein
     
    In der Nacht wachte Bremer auf. Von ungewohnten und zugleich so vertrauten Geräuschen: vom Brubbern eines Schiffsdiesels. Von bewegtem Wasser. Vom fernen Rattern eines Zugs über die Gleise. Es fehlte nur noch der langgezogene Schrei, mit dem früher Schiffe und Züge die Nacht durchschnitten. Alles war wie damals, und doch ganz anders.
    Nach Sekunden der Orientierungslosigkeit wußte er wieder, wo er war. Und auch, daß er nicht mehr der kleine Junge war, sondern ein längst erwachsener Mann auf der Suche nach – was? Plötzlich fröstelte er in seinem warmen Bett. Und plötzlich glaubte er, Schritte zu hören. Über ihm. Neben ihm.
    Er strengte alle Sinne an und lauschte in die Dunkelheit. Knackte da eine der Dielen, oder setzte sich das Haus nur zur Ruhe, müde ächzend, wie das alle alten Häuser taten? Die Angst vor dem Unbekannten packte ihn wieder wie damals, als er noch klein war und sich mit der Einsamkeit abfinden mußte. Einer Einsamkeit, gegen die auch die Anwesenheit seines Großonkels lange Zeit nichts hatte ausrichten

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