Wasser zu Wein
Als ob er nicht gemerkt hätte, daß sie seit einiger Zeit immer häufiger vergaß, die Pille einzunehmen! Er hatte sich daraufhin vorgenommen, die Tage ihrer Periode im Kalender zu notieren, sich in ihren fruchtbaren Zeiten von ihr fernzuhalten und überhaupt darauf zu achten, daß keine Unregelmäßigkeiten auftraten. Bei dieser Vorstellung verging ihm das letzte Fünkchen Lust. Das war doch keine Liebe mehr.
Hatte er sie überhaupt je geliebt? Er bog in die Einbahnstraße ein, die zur Altstadt führte. Er hatte es jedenfalls geglaubt. Sie waren das ideale Paar gewesen, er und Marlene. Sie ging dreimal die Woche ins Fitneßcenter, fetzte mit dem Mountainbike durch die Weinberge und war eine strahlende Disco-Queen. Sie maulte nicht, wenn er Boxen ging. Oder wenn Fußball im Fernsehen war. Das hatte sich im vergangenen Jahr zu ändern begonnen. Ihre Musikvorlieben gingen ihm zunehmend auf den Wecker, und daß sie sich nächtelang durch sämtliche 333 Fernsehprogramme zappte, fand er irgendwann auch nicht mehr unterhaltend. Er sei so langweilig geworden, hatte sie auf der Party vor drei Wochen geklagt. »Weil ich auch mal in ein Buch gucke?« hatte er wütend zurückgebrüllt. Ihr, hatte er damals gedacht, würde das auch nicht schaden.
Aber das alles war nicht der Grund für die Krise in ihrer Beziehung. Um ehrlich zu sein: Ihr Verhältnis hatte sich verschlechtert, seit er mit Kosinski zusammenarbeitete. Ihm war es gar nicht aufgefallen, daß er seither noch mehr Überstunden machte. Und immer häufiger auch mal über was anderes reden wollte als Sport. Daß er plötzlich Ehrgeiz entwickelte und über seine »Berufsauffassung« nachdachte – wie Kosinski das nannte.
Ihr schon. Auf sie hatte Kosinski wie ein rotes Tuch gewirkt. »Er ist ein verknitterter alter Trottel!« hatte sie kürzlich geschrien. »Willst du so werden wie er?«
»Ja, ich will!« sagte Michael laut. Es klang wie das Ehegelöbnis bei der kirchlichen Trauung. Er wollte so werden wie der schlaue alte Fuchs. Der es damals inmitten des ganzen Horrors in der Kirche von Lambsheim fertiggebracht hatte, mit einem hemmungslos weinenden Jungkommissar Mitleid zu haben. Michael hätte sich dem Alten damals fast an den Hals geworfen. O Mann! dachte er. Hätte Marlene verstanden? Er hatte es ihr nie erzählt. Das war wahrscheinlich auch besser so – sie wollte keinen Schwächling als Mann.
Gerade noch rechtzeitig trat er mit aller Kraft auf die Bremse. Er war so in Gedanken gewesen, daß er die Frau beinahe umgefahren hätte, die offenbar ebenso gedankenverloren auf die Straße gelaufen war – und das auch noch mit Krücken. Er sah, wie sie zusammenzuckte, das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Blitzschnell war er aus dem Auto.
Bei ihrem Anblick verschlug es ihm die Sprache. Jedenfalls wollte ihm keine auch nur halbwegs intelligente Ansprache gelingen. Er kam sich vor wie ein verklemmter Fünfzehnjähriger. Oder wie ein Mann mit drei Promille im Blut. Sie wiederum guckte ihn an, als ob sie eine Erscheinung hätte. Unwillkürlich griff er sich ans Kinn. Hatte er sich heute morgen nicht richtig rasiert?
Schön war sie ja nicht, aber … Das wütende Hupen hinter seinem Wagen brachte ihn wieder auf die Erde. Als sie zu lachen anfing, hemmungslos, mit zurückgeworfenem Kopf und tiefer Stimme, lachte er auch. Und hätte ihr am liebsten die Lippen auf die weiße Kehle gelegt.
7
Kosinski hatte sich vor Burg Monrepos von ihm verabschiedet. Ohne groß darüber nachzudenken, ging Bremer die Straße hoch und aus dem Dorf hinaus – den Weg, den er als Kind schon gegangen war, wenn ihn etwas beschäftigte oder wenn er Kummer hatte. Oder wenn er sich einsam fühlte. Er ging in die Weinberge.
Mit gesenktem Kopf kickte er die Erdklumpen an den Wegesrand, die ein Trecker auf dem Feldweg hinterlassen hatte, und war plötzlich, trotz des vielen Weins, wieder ganz nüchtern. Warum hatte man von der Lotte umgebracht? Weil er ein unangenehmer Kerl war? Dann wäre kaum jemand seines Lebens sicher. Das reichte nicht fürs Todesurteil. Auch nicht, daß einer zuviel trank und zuviel redete. Oder ein Spinner war. Ein Verrückter, ein Besessener.
Ein Außenseiter? Und auch noch ein stänkernder Frankfurter? Das ließ sich schon besser an. Außenseiter mochte man nicht in Wingarten. Die hatte man noch nie gemocht hier. Die hatte man schon damals nicht gemocht, als er mit neun Jahren hier angekommen war. Seiner Erinnerung nach hatte er monatelang Tag für Tag allein auf dem
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