Wassermanns Zorn (German Edition)
hüfthoch.
Lavinia stoppte den Wagen, als die Getreidefelder in offene Feuchtwiesen übergingen und sie ihren Sichtschutz verlor. Sie stieg aus, ging ein paar Meter vor und sah den schwarzen Volvo am Ende des Feldweges vor einer hölzernen Schranke unter Bäumen stehen. Susan und der Fahrer saßen schon nicht mehr darin. Den See konnte Lavinia nicht sehen, weil er von einem dichten Baumgürtel umgeben war. Sie lief zu ihrem Wagen zurück und fuhr ein paar Meter vor, parkte und behielt den Volvo im Auge.
Schon nach fünf Minuten klingelte ihr Handy.
«Ich bin’s», meldete sich Susan. Sie klang unbeschwert. «Du glaubst es nicht, der Typ ist so schüchtern, der wollte mich nicht einmal mit Sonnencreme einreiben.»
«Wo ist er denn?», fragte Lavinia.
«Im Wasser. Er schwimmt. Ich hab’s ja gesagt, hier läuft heute nichts. Na, wenigstens werde ich schön braun.»
«Okay, ruf mich, wenn etwas ist. Ich müsste dich hier hören können.»
Lavinia legte auf. Sie war erleichtert. So wie Susan geklungen hatte, war wirklich alles in Ordnung, und wenn der Typ lieber schwamm, als sich mit einer schönen Frau zu beschäftigen, dann war er selbst schuld. Vielleicht, so dachte Lavinia, sollte sie öfter mal auf Susans Menschenkenntnis vertrauen. Die schien besser zu sein als ihre eigene, obwohl sie nur zwei Jahre älter war. Allerdings war Susan auch durch eine ganz andere, viel härtere Schule gegangen als sie selbst.
Susan war bis zu ihrem achten Lebensjahr bei ihrer Mutter aufgewachsen, ihren Vater kannte sie nicht. Ihre Mutter war psychisch labil gewesen, hatte sie geschlagen, einige Therapien durchgemacht und war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um ein Kind aufzuziehen. Deshalb war Susan bei vier verschiedenen Pflegefamilien gewesen, hatte dort aber immer wieder Probleme gehabt. Sie war ein Freigeist, der sich nicht unterordnen wollte und seine eigenen Vorstellungen vom Leben hatte, auch in jungen Jahren schon. In die biedere Spießigkeit einer angepassten Durchschnittsfamilie passte sie nicht. Sie sprach nicht über das, was zwischen ihr und ihrer Mutter vorgefallen war, und auch nicht darüber, was sie in den Pflegefamilien erlebt hatte, aber immer, wenn sie in Gesprächen am Rand ihrer Erinnerungen entlangschrammte, konnte Lavinia den Schmerz und die Enttäuschung in den Augen ihrer Freundin sehen.
Sie selbst hatte immerhin bis zum fünfzehnten Lebensjahr Liebe und Fürsorge erfahren. Bevor ihre eigene Welt zerbrochen war.
Lavinia musste daran denken, dass ihre Mutter morgen Geburtstag hatte. Ein Jahr lang hatte sie sich immer wieder vorgenommen anzurufen, spürte aber, dass sie es wieder nicht tun würde. Sie hatten schon seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Ihre Mutter gab ihr eine Teilschuld am Tod ihres Vaters. Anfangs hatte Lavinia sie aus Wut darüber nicht angerufen. Jetzt tat sie es aus Scham nicht, denn ihre Mutter hatte recht.
Im Wagen wurde es ihr zu heiß, deshalb stieg Lavinia aus. Sie war gerade bis zur Motorhaube gekommen, da hörte sie den Schrei.
Laut und gellend.
Ohne nachzudenken, lief Lavinia los. Vorbei an dem Volvo, über die hölzerne Schranke, einem schmalen Weg folgend, dann durch dichtes Gebüsch, bis sie schließlich das Seeufer erreichte.
Was sie dort sah, ließ ihr Herz aussetzen.
Susan war im Wasser. Sie schwamm mit wilden, unkontrollierten Bewegungen auf das Ufer zu, hatte es auch schon fast erreicht, wurde dann aber mit einem heftigen Ruck unter Wasser gezogen und verschwand.
Lavinia rang ihre Angst nieder, überwand ihre Schockstarre, sah sich suchend um und entdeckte einen armdicken Ast im Unterholz. Sie hob ihn auf und lief damit zum Ufer. Als sie es erreichte, durchbrach Susan wieder die Wasseroberfläche, spie hustend und würgend Wasser aus und kraulte auf sie zu.
Lavinia watete bis zu den Knien ins Wasser, streckte einen Arm aus und half ihrer Freundin heraus.
«Wo ist er?», schrie sie.
«Im Wasser … im Wasser.»
Vor ihr tauchte ein Kopf auf, zumindest glaubte Lavinia das. Sie schlug zu. Sie spürte einen Widerstand, wusste aber nicht, ob sie ihn getroffen oder nur aufs Wasser geschlagen hatte.
Rückwärts, die Wasseroberfläche immer im Auge, den Ast zum Schlag erhoben, stolperte Lavinia mit Susan aus dem See ans Ufer.
«Komm her, du Arschloch», schrie sie in Angst und Wut, und ihre Worte trugen weit über den See.
«Hast du ihn getroffen?», keuchte Susan hinter ihr.
«Ja, am Kopf, ich hab ihn am Kopf getroffen.»
Lavinia zitterte am ganzen
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