Wassermanns Zorn (German Edition)
nickte.
«Okay, fahr los», sagte sie und ließ sich erleichtert in den Sitz sinken.
Frank fuhr aus der Feuerwehreinfahrt, wendete den Wagen auf dem Vorplatz und gab Gas.
Aus dem Schatten der Haltestelle trat ein Mann und sah ihnen lange nach.
6
Kriminalhauptkommissar Eric Stiffler stand unter der mächtigen Weide, deren lange Äste einen grünen Vorhang bildeten und wie Angelschnüre in das trübe Wasser des Flusses eintauchten.
Das große Frühjahrshochwasser lag noch keine drei Monate zurück. Es hatte einiges an Treibgut den Fluss hinuntergespült, und ein paar kleinere Stämme hatten sich zwischen dem Ufer und den ein Stück weit ins Wasser hineinragenden Wurzeln der Weide verkeilt. An dieser Barriere waren Zweige, Äste und Gräser hängen geblieben, sie war angewachsen, Müll hatte sich angesammelt, das Rot einiger Coladosen blitzte daraus hervor, aber auch das gelbe M einer Frittenkette auf einer braunen Tüte.
Das Gesicht daneben war weiß.
Der Körper war unter der schwimmenden Barriere aus Treibgut verborgen, das Gesicht jedoch lag frei, die weit aufgerissenen Augen waren zum Himmel gerichtet. Vorwurfsvoll.
Warum kommst du jetzt erst, Eric?
Vielleicht waren das ihre letzten Gedanken gewesen, als sie um ihr Leben gekämpft hatte, vielleicht auch nicht, aber in Erics Kopf würde es für immer so sein. Der Anrufer mit der wässrigen Stimme hatte dafür gesorgt. Dieser Wichser kannte sich aus mit dem Innenleben der Menschen, er wusste, wie man Gedanken einpflanzte.
Sie badet, Stiffler … sie badet …
Eric wandte den Blick ab von Annabells totem Gesicht und sah auf. Es war still hier am Flussufer, wie meistens. Die Luft roch nach lebendigem Wasser, und der feine weiße Sand am Ufer gab jetzt die gespeicherte Wärme des Tages frei. An diesem Sandstrand hatte er oft mit Annabell gelegen, meistens am Abend, wenn dort kein Mensch mehr war. Es war der einzige Platz, an dem er sich mit ihr in die Öffentlichkeit gewagt hatte. Sie fand das romantisch, aber um Romantik war es ihm nicht gegangen, als er den Platz ausgekundschaftet hatte. Sondern nur um Abgeschiedenheit.
Zuletzt hatte er sich vor einem Monat mit Annabell hier getroffen. Mindestens von dem Tag an musste der Anrufer ihn also beobachtet haben. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken. Warum hatte er nichts bemerkt?
Nach dem Anruf in ihrer Wohnung hatte er beinahe eine Stunde vergehen lassen, bis er rausgefahren war. Er hatte sich gelähmt und kraftlos gefühlt und nicht gewusst, was er tun sollte. Ob er überhaupt etwas tun sollte. Am Ende hatte die Logik gesiegt. Er war von ihrem Handy aus angerufen worden, so etwas ließ sich nachvollziehen, aus der Sache kam er also nicht raus. Den Zeitverlust zu erklären würde schon schwierig genug werden.
Eric folgte mit seinem Blick der schmalen Teerstraße, die aus der Ortschaft Hönisch hierherführte, direkt neben der Weide aber in einen Feldweg überging. Folgte man diesem Feldweg, gelangte man nach vierhundert Metern an einen Wald. Dieser Wald wurde in vier Kilometer Entfernung vom Fundort der Leiche von der A 27 durchschnitten. Über den Feldweg kam man auf den Parkplatz der Raststätte und von dort aus auf die Autobahn – ein idealer Fluchtweg. Zwei weitere Möglichkeiten führten von hier über Wirtschaftswege auf die B 215 und von dort aus in alle Richtungen. Für ihn selbst war es immer ideal gewesen. Für den Täter natürlich ebenso.
Dr. Heinemann, Mitarbeiter der Rechtsmedizin, trat neben ihn.
Heinemann war ein emsiger kleiner Streber mit dem Gesicht einer Ratte: spitz und schmal und auf eine unangenehme Art neugierig. Seine Augen zuckten ständig hin und her, als hätte er Angst, irgendwas zu verpassen.
«Sie wollen nicht näher ran, nehme ich an», sagte Heinemann mit dem für ihn typischen Unterton.
Eric kannte den Mann mehr als fünfzehn Jahre und hatte ihn nie anders sprechen hören. Immer dieses Vorwurfsvolle und Anmaßende, so, als wären alle anderen schuld an seinem beschissenen Job!
«Es reicht ja, wenn sich einer von uns beiden nasse Füße holt», erwiderte er und erntete den erwarteten missbilligenden Blick.
Heinemann trug eine wasserdichte Wathose, die ihm bis unter die Achseln reichte und von seinem schmalen Körper abstand, als hätte er eine zweite Person daraus vertrieben. Die Hosenträger spannten an seinen knochigen Schultern.
«Ich muss wissen, ob sie angetrieben oder absichtlich dort abgelegt wurde», sagte Eric. «Den Rest können wir nach der Leichenschau
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