Wassermanns Zorn (German Edition)
die beiden Männer nicht reagierten, schrieb sie es ihrer Angst zu.
Warum lockte der Täter sie ausgerechnet hierher? Auf dem Parkplatz hatte Stiffler nichts dazu gesagt, und seit sie losgegangen waren, hatte keiner mehr ein Wort gesprochen. Die Anspannung war beinahe körperlich spürbar.
Unvermittelt blieb Nielsen stehen und hob die Hand. Manuela schloss zu ihm auf und spürte einen Augenblick später Stifflers schnellen, mühsamen Atemrhythmus in ihrem Nacken. Ihr eigenes Herz schlug ebenfalls viel zu schnell. Nielsen hingegen schien die Ruhe selbst zu sein.
«Da», sagte er leise.
Manuela folgte seinem Blick. Es dauerte einen Moment, bis sie sah, was er meinte.
Im Schutz des Waldes hob sich wie eine schwarze Festung ein Holzhaus vor dem Hintergrund des Sees ab.
«Was ist das?», fragte Manuela flüsternd.
«Hier gab es mal einen Kiosk und einen Bootsverleih», raunte Stiffler, der viel zu dicht bei ihr stand und nach Alkohol stank.
«Hält er sie dort fest?», fragte Manuela und rückte ein Stück von ihm ab.
«Das werden wir herausfinden», antwortete Nielsen und ging voran.
Manuela zögerte. Von dem dunklen Gebäude ging etwas Bedrohliches aus, und sie hatte plötzlich das Gefühl, in Gefahr zu sein.
Stiffler stieß sie von hinten an.
«Was ist? Hosen voll?»
Sie antwortete nicht, sondern setzte sich in Bewegung. Während ihrer Ausbildung hatte sie ähnliche Situationen zigfach trainiert, und Manuela war sich sicher gewesen, auf alles vorbereitet zu sein. Bis jetzt. Denn dies hier war die Realität, hier lauerte echte Lebensgefahr. Sie hatte zwei erfahrene Kollegen an ihrer Seite, na gut, eigentlich nur einen, denn Stiffler zählte in seiner Verfassung nicht, und trotzdem fühlte Manuela sich nicht sicher.
Hinter sich hörte sie Stiffler auf Zweige treten und hätte ihn am liebsten angeschrien, er solle leise sein.
Als sie sich der Hütte bis auf wenige Meter genähert hatten, riss das fahle Licht eines Blitzes deren Umrisse aus dem Schatten, und für einen Moment konnte Manuela sie gut erkennen.
Sie war nicht sehr groß. Die Hälfte des Schindeldachs war zerstört, und aus der Mitte ragte ein gewaltiger Ast. Die Fenster waren offene, schwarze Löcher, die wie tote Augen in den Wald glotzten. Die Holzwände faulten, Moos wuchs daran.
Nielsen näherte sich der offenen Tür, zielte kurz hinein und verschwand dann im Inneren. Manuela folgte ihm mit klopfendem Herzen und sah sich um.
Zum See hin gab es einen großen Durchlass, der auf eine zerstörte Holzterrasse führte, sodass genug Licht hineinfiel. Unter dem zersplitterten Ende des Astes lagen Deckenbalken und Schindeln auf dem Boden, Gras wuchs auf den faulenden Dielenbrettern. An den Wänden gab es ein paar hastig hingeschmierte Graffiti. Der Rest eines kleinen Feuers erzählte von langen nächtlichen Feiern an diesem abgelegenen Ort. Bis auf ein paar Bierdosen, Wodkaflaschen und Plastiktüten war die Hütte leer. Nichts wies darauf hin, dass vor kurzem jemand hier gewesen war.
«Fehlanzeige», sagte Nielsen.
«Es gibt noch ein Bootshaus», machte sich Stiffler jetzt bemerkbar. Er war vor der Hütte stehen geblieben. «Vorn am Wasser.»
Er zeigte zum See hinüber. Keine dreißig Meter entfernt stand eine langgezogene Holzhütte auf kurzen, dicken Stelzen im Wasser. Sie schien weitgehend intakt zu sein.
«Na, dann los», sagte Nielsen und winkte mit seiner Waffe. Sie traten aus dem Wald und liefen unmittelbar am Ufer entlang. Hier war es deutlich heller, und Manuela atmete innerlich ein wenig auf. Doch dann fiel ihr ein, was sich unter der undurchsichtigen Wasseroberfläche verbergen konnte, und sie wich automatisch ein paar Schritte vom Wasser fort. Die Stelle an ihrer Wade, wo der Wassermann sie berührt hatte, brannte. Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie den See ab. Nichts.
Das Bootshaus war zehn Meter lang, aber nur drei Meter breit und hatte ein flaches, zum See hin ansteigendes Pultdach aus alten Eternitplatten, auf denen nur stellenweise dickes Moos wuchs. Das abgebrochene, zwei Meter lange Stück einer Kunststoffregenrinne hing bis zum Boden herunter. Zum Wald hin war das Bootshaus geschlossen.
Nielsen wartete am Beginn eines Holzstegs auf sie, der von einem gegossenen Betonfundament am Ufer zum Haus hinüberführte. Als sie zu ihm aufgeschlossen hatten, ging er abermals vor. Manuela ging dicht hinter ihm. Sie trat vorsichtig auf, um keine Geräusche zu machen. Nielsen verharrte kurz vor einer Ecke des Bootshauses, sein
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