Wassermanns Zorn (German Edition)
Bestätigung bekommen. Dann würden all seine Bemühungen vergebens sein, den Fall ohne großes Aufsehen abzuschließen.
Eric hörte Schritte und drehte sich um.
Nielsen. Mit der Sperling im Schlepptau.
Sie trug einen Overall des Rettungsdienstes und sah klein und verletzlich aus darin. Vorhin, als sie gemeinsam hierhergefahren waren, hatte er ihr noch vorgehalten, sie wäre ein Klotz am Bein eines erfahrenen Ermittlers und würde ihn irgendwann in Gefahr bringen. Kurze Zeit später hatte sie ihm gezeigt, wie mutig und zäh sie war. Sie hatte ihn bloßgestellt.
Eric wandte den Blick ab. Er ertrug es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Dieser selbstgerechte Blick war einfach zum Kotzen.
Am liebsten hätte er sich in ein Erdloch verkrochen. Was auch immer Nielsen der Sperling erzählt hatte, sein Ruf war jetzt komplett im Eimer. Das hätte nicht passieren dürfen. Er hätte ihr helfen müssen, hätte genauso beherzt wie sie ins Wasser springen müssen. Aber er hatte es nicht gekonnt. Denn genau das war es doch, was der Wassermann wollte: ihn in sein Element locken.
Nielsen trat hinter ihn und legte eine Hand auf seine Schulter.
«Und?», fragte er.
«Sie steckt fest, aber es dauert nicht mehr lange.»
Eric ging bis zur Uferkante vor, und Nielsen folgte ihm.
«Warum hast du sie mitgebracht?»
«Sie ist Polizistin. Willst du ihr verbieten, an den Ermittlungen teilzuhaben, nach dem, was passiert ist? Verflucht, Eric, du musst das mit ihr irgendwie auf die Reihe bekommen. Und zwar schnell. Was denkst du, wie viel Zeit dir noch bleibt?»
Die schwarzen Köpfe der Feuerwehrtaucher tauchten auf, und die Männer in den Booten gerieten in Aufruhr. Eric beobachtete, wie im fahlen Licht der Scheinwerfer ein lebloser, nackter Körper mit vereinten Kräften ins Boot gewuchtet wurde. Dann setzte es sich mit leise tuckerndem Motor in Bewegung und hielt genau auf die Landzunge zu. Es legte längsseits an. Eric, Nielsen und die Sperling konnten direkt ins Boot hineinsehen.
Eric hörte, wie die Sperling scharf die Luft einzog.
In dem langen Haar der Toten, das fast schwarz wirkte, hatte sich Wasserpest verfangen. Die Haut war ganz weiß, aber das konnte auch am Scheinwerferlicht liegen.
Sie hatte sich in den vergangenen Jahren kaum verändert.
«Großer Gott!», stieß er hervor.
Dann wandte er sich ab, fiel auf die Knie und tat so, als müsse er sich übergeben.
30
Die alten rissigen Eichenholzbohlen hatten die Hitze des Tages gespeichert. Er spürte die Wärme an seinem Rücken und den Beinen, spürte Schraubenköpfe im trockenen Holz, die sich in seine Haut bohrten. Dieses sengende Gefühl auf seinem Brustkorb und im Gesicht – die Sonne brannte jeden Wassertropfen von seiner Haut.
Er hatte den rechten Unterarm über die geschlossenen Augen gelegt, um sich vor dem gleißenden Licht zu schützen. Unter sich hörte er, wie das Wasser sanft gegen die Eichenpfähle plätscherte, die den Steg seit Jahrzehnten trugen. Es war ein leises Geräusch, fast als ob sich zwei Menschen küssten, und er fragte sich, ob es eine Beziehung gab zwischen ihnen, ob sie sich liebten – so wie er und seine Schwester.
Siiri lag neben ihm. So dicht, dass ihr rechter Oberarm seinen linken berührte und er sie atmen hörte.
Siiri. Ihr Name bedeutete «Kämpferin», und sie hatte gekämpft.
Wie schon so oft waren sie um die Wette geschwommen, aber heute hatte sie ihn zum ersten Mal geschlagen. Sie war erst elf Jahre alt und hatte ihn geschlagen.
Natürlich war sie erschöpft von dieser gewaltigen Anstrengung, und ihr Atem ging noch immer schnell. Hinter den geschlossenen Augen und dem schützenden Unterarm stellte er sich vor, wie ihr Brustkorb sich hob und senkte, dieser kleine, zarte Brustkorb mit der glatten, braunen Haut ohne jeden Makel. Er stellte sich vor, wie die Wassertropfen daran herabperlten und Spuren hinterließen wie seichte Flüsse.
Sie war elf Jahre alt.
Sie war seine kleine Schwester.
In diesem besonderen Moment aber, da die Welt zusammenschrumpfte auf ihren Steg, da es nichts anderes mehr gab, keine Sorgen, keinen Neid, kein Morgen, da war sie auch etwas anderes. Er hatte keine Erklärung dafür, aber noch heißer als die sengende Sonne brannte die Berührung ihrer Haut auf seiner. Alle Nervenenden schienen sich auf diesen Punkt an seinem Oberarm zu konzentrieren. Sie sendeten ein ekstatisches Dauerfeuer an sein Hirn, in dem sich alle Gedanken und Hemmungen in Gefühlen auflösten, die keine Grenzen, keine Tabus und keine
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