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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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getrennt gewesen waren.
    Mystik! Er dachte ständig an Welta, stellte sich vor, was sie zu dieser oder jener seiner Handlungen (oder denen anderer) sagen würde. Doch nicht mehr. Das andere Mädchen hingegen, das ihr lediglich ähnlich sah, die aber nichts von Welta haben konnte, außer der äußeren Ähnlichkeit, nahm in seinen Gedanken plötzlich fast den größeren Platz ein. Nein, es war kein Schein gewesen. Gleichzeitig gab es keinen Zweifel: die paar Worte, die sie in dieser bislang noch fremden Sprache ausgesprochen hatte, und die Bewegung der vorspringenden Lippen, von denen die klangvollen weichen Laute gekommen waren, veranlaßten ihn immer wieder aufs neue, sich das Gesicht mit den leicht vorstehenden Backenknochen in einem Durcheinander von goldenen Sonnenflecken schwebend, ins Gedächtnis zu rufen. Erstaunlich kurz war der Weg von den blauen Waldglockenblumen und blutroten Nelken, die sie in ihren Händen gewärmt hatte, zum Herzen.
    … Eines Tages sprachen sie lange miteinander, und er, so scheint es, hätte dem Mädchen, einer Illusionen, einer unerklärlichen momentanen Gewühlsanwandlung nachgebend, fast alles erzählt. Er hatte bereits einige vorbereitete Sätze ausgesprochen über den Kosmos, darüber, daß in manchen Märchen mehr Wahrheit als Phantasie stecke, daß man stets bereit sein müsse für eine Begegnung mit dem Unbekannten (»denn das ist doch interessant, nicht wahr?«). Das Mädchen hörte ihm aufmerksam zu, er brauchte nur noch die letzte Brücke von der Abstraktion zur Wirklichkeit zu schlagen, doch da fühlte er, daß er nicht die Kraft dazu hatte. Er fürchtete sich. Viel später staunte er sogar drüber, wie er plötzlich so viel Mut aufgebracht hatte. Was hätte sie wohl von ihm gedacht? Keiner hätte ihm verboten, die Wahrheit aufzudecken, das Recht auf diesen Schritt war allein ihm vorbehalten. Und wäre es notwendig gewesen … oder hätte bloß den Anschein von Notwendigkeit gehabt, er …
    Das Mädchen hätte ihm nie geglaubt. Wie viele nicht. Außerdem wäre ihre Beziehung dadurch vielleicht zu Ende gewesen. Wer hat schließlich nicht das Recht, sich zu entrüsten, wenn reine Phantasie als Wahrheit hingestellt wird? Er beschloß: später. Ein plötzliches Bedürfnis, nur die Wahrheit zu sagen, sie nicht einmal hinter Schweigen zu verstecken, kam in ihm auf. Doch im Augenblick hatte er nicht die Kraft dazu. In einem Monat, dachte er, nur nicht jetzt, vielleicht in einem Jahr (»wenn sie einmal sagen sollte: du bist anders als die anderen …!«).
    Bislang maß sie seine Handlungen noch an den ihren und konnte nicht aufdecken, was unter sieben Siegeln gehütet wurde. Ihm gefiel es sogar, die Welt mit ihren Augen zu sehen. Wenn er Kartotheken und Berichte für das Schiff zusammenstellte, beurteilte er Ereignisse, Bücher, alles, was von der menschlichen Gesellschaft geschaffen wurde, aus dem Blickwinkel von Kriterien, die er sich angeeignet hatte, professionell; im Gespräch mit ihr aber konnte er einfach alles Lustige aus denselben Büchern nacherzählen, sowohl die Schreibweise des Autors als auch die Versuche ins Lächerliche ziehen, sich mit Hilfe der Pyramiden von Bänden und Folianten, die bedrohlich rasch in den Himmel zu wachsen fortfuhren, ein objektives Bild machen zu wollen. Diese beiden Linien kreuzten und widersprachen einander kaum, und das erheiterte ihn.
    Und all das geschah, weil er sie damals, am ersten Tag, ausgeforscht hatte. Auf derselben Wiese, über die sie so leichten Schrittes gegangen, wie eine Erscheinung hinweggehuscht war, im Gras versinkend, schickte Erto die Wege und Pfade entlang einen Strahl, bis er sie fand. Das war bereits nach dem Gespräch mit Welta gewesen. In der Tellurfassung, auf der gelblichen, bernsteinfarbenen Scheibe tauchte plötzlich die bekannte Gestalt auf. Sie wußte natürlich nicht, daß sie beobachtet wurde. An der Stadtgrenze blieb sie stehen. Der Abend hatte die Farben gelöscht, und nur in weiter Ferne am Horizont wogte, kaltes Licht ausstrahlend, das Meer des Sonnenuntergangs. Sie wartete auf den Bus. Er begleitete sie bis ans Haus und beschloß, sich in der Nähe ein Quartier zu suchen. »Valentina!« rief er morgens laut ihren Namen. Die Welt vor dem Fenster war klar, hell und wohlklingend.
    Erto mietete sich in der Wohnung eines Professors ein (der Hausherr war meist am Arbeitsplatz, auf Konferenzen, in Redaktionen und Gott weiß wo noch). In einem der drei Räuber stellte er mit Hilfe eines

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