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Wassermelone: Roman (German Edition)

Wassermelone: Roman (German Edition)

Titel: Wassermelone: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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wehte, war es Zeit, das Menetekel an der Wand zu lesen.
    Ich hab doch gewusst, dass sie mich eines Tages kriegen würden, dachte ich, und mir wurde ganz übel. Es war nur eine Frage der Zeit. Bestimmt war es die alte Ziege mit dem Rosenkranz. Es sind immer die stillen Wasser.
    Mit der Kleinen auf dem Arm begann ich hektisch nach einem Zuständigen zu suchen. Schließlich fand ich ein kleines Büro mit zwei recht freundlich dreinblickenden Gepäckträgern.
    »Immer rein in die gute Stube!«, rief mir einer von ihnen zu, während ich unsicher vor der Tür stand. »Was können wir an diesem wunderbaren nassen irischen Nachmittag für Sie tun?«
    Ich breitete die Geschichte mit meinem gestohlenen Gepäck samt meiner Säuglings-Trageschale vor ihnen aus. Fast wäre ich wieder in Tränen ausgebrochen. Ich kam mir richtig hereingelegt vor.
    »Keine Sorge, junge Frau«, wurde ich beruhigt. »Niemand hat irgendwas gestohlen. Es ist nur verschwunden. Ich kümmere mich drum. Ich habe einen direkten Draht zum heiligen Antonius.«
    Und tatsächlich kam er nach etwa fünf Minuten mit meinem gesamten Gepäck zurück. »Gehört das Ihnen, junge Frau?«, fragte er. Ich bejahte.
    »Und Sie fliegen nicht nach Boston?«
    »Ich fliege nicht nach Boston«, bekräftigte ich, so gleichmütig ich konnte.
    »Bestimmt nicht?«, fragte er zweifelnd.
    »Bestimmt nicht«, sagte ich.
    »Irgendjemand schien aber dieser Ansicht zu sein. Jedenfalls haben Sie jetzt Ihr Gepäck«, lachte er.
    Ich dankte den beiden und eilte auf den Gang mit dem grünen Schild zu, auf dem ›Nichts zu verzollen‹ stand.
    Im Eilschritt schob ich meinen Wagen mit dem wiedergefundenen Gepäck hindurch, die Kleine auf dem Arm. Als mir einer der Zollbeamten in den Weg trat, sank mir das Herz.
    »Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Wo brennt’s? Haben Sie etwas zu verzollen?«
    »Nein.«
    »Und was ist das?«
    »Ein Säugling.«
    »Ihrer?«
    »Ja, meiner.« Mein Herzschlag stockte. Ich hatte James nicht gesagt, dass ich England verlassen würde. Hatte er etwa geahnt, dass ich zu meinen Eltern zurückkehren würde? Hatte er der Polizei weisgemacht, ich hätte unser Kind entführt? Wurden alle Häfen und Flughäfen überwacht? Würde man mir meine Kleine fortnehmen und mich des Landes verweisen?
    Ich war wie versteinert.
    »So, so«, fuhr der Zollbeamte fort. »Sie haben also nichts zu verzollen als Ihre Gene.« Er lachte laut und herzlich.
    »Ja, sehr gut«, sagte ich kläglich.
    »Ein Witzbold, unser Mr. Wilde«, sagte sein Kollege im Plauderton. »Ein Mann, der Hochachtung verdient.«
    »Ganz und gar«, stimmte ich zu und fügte mit einem Lächeln hinzu: »Sie haben mir wirklich Angst eingejagt.«
    Er baute sich vor mir auf wie ein Sheriff aus dem Wilden Westen und sagte augenzwinkernd: »Schon in Ordnung, Ma’am. Hab nur meine Pflicht getan.«
    Schön, wieder daheim zu sein.

4
    I ch stürmte in die Empfangshalle hinaus. Auf der anderen Seite der Absperrung sah ich meine wartenden Eltern. Sie wirkten kleiner und älter als bei meinem Besuch vor etwa einem halben Jahr. Ich hatte ein richtig schlechtes Gewissen. Beide waren Ende fünfzig und hatten sich vom Tag meiner Geburt an Sorgen um mich gemacht. Eigentlich schon vorher, wenn ich ehrlich sein soll, denn ich war drei Wochen überfällig, und sie hatten schon darüber nachgedacht, mich durch ein Empfangskomitee abholen zu lassen. Ich habe schon gehört, dass manche Leute zu ihrem eigenen Begräbnis zu spät gekommen sind, aber es ist bestimmt etwas Besonderes, wenn sich jemand bei der eigenen Geburt verspätet.
    Als Nächstes hatten sie sich Sorgen um mich gemacht, als ich mit sechs Wochen eine Kolik bekommen hatte, und dann wieder, als ich mit zwei Jahren ein ganzes Jahr lang nichts anderes essen wollte als Dosenpfirsiche. Sie hatten sich Sorgen um mich gemacht, als ich mit sieben Jahren in der Schule wirklich schlecht war. Dann, als ich mit acht Jahren in der Schule wirklich gut war, aber keine Freundinnen hatte. Sie sorgten sich um mich, als ich mir mit zwölf Jahren den Knöchel gebrochen hatte und als mich einer meiner Lehrer mit fünfzehn stockbetrunken von einer Schul-Disco nach Hause bringen musste, als ich mit achtzehn in meinem ersten Studienjahr nie eine Vorlesung besuchte und als ich mich auf das Abschlussexamen vorbereitete und keine Vorlesung ausließ. Sie hatten sich Sorgen um mich gemacht, als ich mich mit zwanzig von meiner ersten großen Liebe trennte und zwei Wochen lang in meinem verdunkelten Zimmer

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