Wassermusik
wie notwendig ist eine ordentliche Einstellung zum Gräberschaufeln? Wieviel Können oder Hingabe braucht man dafür schon? … Trotzdem, in jeder größeren Sammlung von Menschen gibt es immer welche, die für bestimmte Aufgaben besonders geeignet sind, die sich im Laufe der Jahre spezielle Fertigkeiten und Insider-Kenntnisse erworben haben. So auch hier auf Goree. Zum Beerdigungstrupp eingeteilt sind auch zwei Ex-Profis, die eine Lehre auf den Friedhöfen von Islington und Cheapside hinter sich haben: Billy Boyles und Ned Rise.
«Ach, Neddy, is schon ’n teuflisch heißer Tach heut, was? Un was für’n Blödsinn, daß wir hier draußen ausbluten müssen, bloß weil irgendso’n feiner Pinkel aus London herkommt und mit’m Major Tee trinken tut, wie?» Boyles hat einen Panamahut mit zerfledderter Krempe auf und sieht seinen Freund schräg an. Dem äußeren Anschein nach unterscheidet er sich überhaupt nicht von dem Mann, der Osprey reingelegt, Nahum Pribbles Bier getrunken und am Grund von Squire Trelawneys Brunnen gedarbt hat. Weder Ruhr noch Fieber haben ihn angerührt, so immun ist er gegen Schmutz und Verderbtheit, so abgehärtet gegen den Ansturm der Mikroben, weil er sich ein Leben lang in der Scheiße, dem Abschaum und dem Schleim von Londons übelsten und stinkendsten Löchern gesuhlt hat. Jetzt hebt der Anflug einer Inspiration seine Unterlippe und drückt dafür die Nase runter. «He, glaubste, der tät uns mitnehm auf seine Expiddision?»
Neds Augen sind blutunterlaufen. Er hat an Gewicht verloren und fühlt sich leicht schwindlig. Die letzten beiden Nächte konnte er nicht schlafen, hin und her gerissenvon Schüttelfrost und dem Fieber der Ruhr. «Machst du Witze?» knurrt er. «Der wird doch sicher die allerfrischesten Leute nehmen, alle die, die noch grade stehn können und abends einschlafen wie kleine Kinder. Scheiße, Mann, was würde der denn mit zwei wandelnden Leichen wie uns anfangen?»
Boyles’ Züge formieren sich nach und nach zu trotzigem Schmollen. «Ich hab’s genauso drauf wie jeder andre hier», sagt er. Schränkt jedoch sofort ein: «Solang ich regelmäßich meine Rum-Ration kriege. Außerdem: wenn der uns nich nimmt, tun wir bald unsre eigenen Gräber buddeln, das weißte so gut wie ich.»
In diesem Augenblick fährt Martyn herum, bohrt den Stiefelabsatz in den Staub und bellt einen Befehl, der ungefähr besagt, der ganze Trupp möge jetzt die faulen Dreckärsche vom Boden hochkriegen und an die Arbeit gehen, und zwar tutt-swiet, sonst setze es was hinter die Ohren mit seinem fünf Zentimeter dicken, regierungseigenen Paradestab.
Ned erhebt sich müde und stützt sich auf den Spatengriff. Er sieht Boyles an wie ein alter Straßenköter, der unter das Rad eines Fuhrwerks geraten ist. «Hast recht, Billy, hast ja recht. Ich grab dir deins, wenn du mir meins gräbst.»
Drei Stunden später sitzen Boyles und Rise an den Stamm des einzigen Baums auf dem Hügel gelehnt, einer Akazie, und schwelgen in dem paarig gefiederten Schatten. Ihre Spaten stehen, bis zum Heft in der Erde, wie Wächter über dem halb gefüllten Grab vor ihnen. Die Hitze verzerrt den Horizont, breitet eine flache Hand über die totenstille See. Die anderen sind längst weg.
Passiert war folgendes: Weil ihm zum Graben die Kräfte fehlten, war Ned in die Knie gegangen und hatte um Freistellung gebeten. Martyn hatte ihn einen Drückeberger geschimpft und ihm mit dem Stab aufs Steißbein gepocht.Keine Reaktion. Martyn hatte nochmals gepocht, diesmal etwas energischer, wie ein Mann, der ausgesperrt vor seiner eigenen Haustür steht. Ned war ohnmächtig geworden. Als Strafe für diese schamlose Pflichtverletzung hatte Martyn den wiedererwachten Rise dazu vergattert, so lange auf dem Hügel zu bleiben, bis das Grab zugeschüttet sei – und wenn es bis Weihnachten dauere. Billy Boyles hatte sich freiwillig zum Bleiben gemeldet, um auf ihn aufzupassen.
Da sitzen sie also und sammeln Kräfte, um aufzustehen und die Arbeit zu beenden. Zur Erfrischung kippt Boyles einen halben Liter Rum, während Ned in einen Wassersack sabbert. Die Hitze ist unbarmherzig. Nach einer Weile hebt Ned den Kopf und blickt geistesabwesend den Strand entlang, vor seinen Augen tanzen bunte Pünktchen, er sieht eine triste, einsame Möwe, die irgend etwas im Sand zerpickt. Er denkt an früher, an bessere Zeiten, als er an der Theke der «Sauf & Syph-Taverne» stand und einen langen, kühlen Schluck Faßbier nahm, da bemerkt er
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