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Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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an: Geh in den Hafen, und du wirst alle Geschichten der Welt erfahren ... Du wirst hören, was war und was immer sein wird ... denn alles reist mit den Kielen der Schiffe: die Zeit, das Geheimnis und die kleine, salzige, geschlossene Muschel des Schicksals ... Nur du am Hafen wirst die Geschichten hören ...
    Geschichten von wasserstreichenden Hafenlöwen oder eine Geschichte wie diese ...
     
    Ein Franzose kam rein, ein altes Schiff, schwarz und tiefgehend, er fuhr den Strom herauf, nahm den Hafenlotsen an Bord, den Zoll und den Arzt. Er nahm sie auf, ohne die Fahrt zu stoppen, zog groß und wunderbar an den Schuppen vorbei, und im vorgesehenen Hafenbecken rief seine Sirene die Schlepper, um mit ihrer Hilfe zu drehen. Zwei Schlepper schäumten heran, der eine ging unter den Bug, der andere drehte nach achtern; die Schlepper schoben sich über den Achtersteven ran an den schwarzen, gewaltigen, alten Dampfer, Rufe erklangen, aufforderndund unverständlich, und dann ratterten heiß und kurz die Winschen oben auf dem Franzosen, und eine Stahlleine fiel baumelnd und schlappend herab. Auf den Schleppern holten sie die Stahlleinen ein, belegten den Sliphaken und zogen langsam an; während sie zogen, hing ihr Blick an der Leine: die Leine schnellte mit ihrer langen Bucht aus dem Wasser, alle Lose kam raus, sie wurde starr und straff, und eine fürchterliche Kraft setzte sich in ihr fort. Als ob die ganze Welt an ihr hinge, so sah die Leine aus, sie drehte sich und knirschte, und sie zitterte unter dem gigantischen Zug und Gewicht, und die Schlepper krängten vor ungeheurem Druck, während sie in herrlicher, geduckter und gedrungener Bereitschaft schleppten. Sie schleppten das Schiff vierkant an die Pier, slippten die Stahlleinen und rauschten davon in die Dunkelheit des Hafens, nachdem das Leinenkommando die Poller belegt hatte. Und jetzt brachten sie eine Gangway aus auf dem schwarzen französischen Schiff, und über der Gangway befestigten sie eine grelle, drahtverkleidete elektrische Lampe: die Gangway hob und schob sich fortwährend, sie nahm die sanften, behäbigen Bewegungen des Schiffes auf, und die Lampe schwankte.
    Und dann traten die beiden gutgewachsenen Posten vor das Schiff, sie gingen nach vorn und nach achtern, sie rauchten und beobachteten das Deck des Dampfers, und wenn jemand von Bord ging, tauchten sie an der Gangway auf und sahen ihn genau und unverzüglich an, bevor sie ihn passieren ließen. Sie hatten alle von Bord gelassen – bis auf einen. Alle waren ihnen gleichgültig – bisauf den einzelnen, reglosen Mann oben am Schornsteindeck: er war groß und schmalschädlig, sein Anzug schäbig; er trug eine stahlgefaßte Brille, und sein Gesicht war gezeichnet durch eine kranzförmige Narbe am Kinn. Er stand allein oben im Schatten des Schornsteins und beobachtete die Posten auf der Pier. Er wußte, daß sie nur seinetwegen vor dem Schiff aufgezogen waren, er war an den Anblick von Posten gewöhnt, und er hatte sie auch jetzt erwartet – sie gehörten zu seiner Gegenwart und zu seiner Erinnerung. Sie waren in allen Häfen erschienen, in die ihn das alte französische Schiff gebracht hatte. Sie hatten sich so rechtzeitig eingefunden, daß seine Ankunft über weite Entfernung gemeldet worden sein mußte, und er hatte die Posten in vielen Häfen abziehen sehen, sobald die Leinen des Schiffes losgeworfen waren.
    Er beobachtete sie reglos aus dem kurzen, schrägen Schatten des Schornsteindecks, und er wußte, daß sie ihm nichts anhaben würden, solange er auf dem Schiff blieb – sie würden nur auftreten, sobald er das Schiff verlassen wollte. Und während er bewegungslos dastand, mit fast geschlossenen Lidern, war er wieder der Erinnerung ausgesetzt, und er sah den Augenblick wieder, den entscheidenden Augenblick, der fast ein Jahr zurücklag und der sich immerfort einstellte: er erlebte die panische Sekunde, als er dies Schiff betrat, auf der anderen Seite der Welt, im heißen Hafen von Macao. Er erlebte sie nah und genau, und er dachte an die, denen er entkommen war durch seine Flucht. Und er dachte an den Augenblick, als sie ihn entdeckten und er seinen Namen nannte und seinenakademischen Titel und als niemand ihm glaubte, weil er keine Papiere hatte. Und er sah alle Häfen vor sich, in denen man ihm verwehrt hatte, zu landen; in seiner Erinnerung sah er Boston, Southampton und Istanbul und an jeder Pier die Polizisten, nachts und unter sengender Sonne. Er hatte hundert Häfen berührt, hatte sie im

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