Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
Vom Netzwerk:
Bodenbrettern stand Wasser, es stand knöchelhoch und schwankte und schwappte um einen Tisch. Im Wasser schwammen Äpfelreste und Biskuit-Büchsen und wallende, hin und her flutende Papierstücke, und am Tischpfosten rieb sich eine schwimmende, aufgeplatzte Roßhaarmatratze. Das Licht fuhr den Tisch hinauf und zur Schlafbank an der Backbordseite, und dann bewegte es sich nicht mehr: es traf voll das Gesicht des Mannes, der ausgestreckt auf der Schlafbank lag, barfuß und mit dem Rest eines Mantels bedeckt. Der Mann war alt, klein und ziegenbärtig, und er blinzelte in das Licht und hob eine Hand, um es abzuwehren. Aber das Licht ließ ihn nicht mehr los, und er verkniff sein Gesicht und begann auf einmal zu lächeln. Er lächelte vergnügt,ein bißchen selig und in sanfter Blödheit, er schien sich mit einem Lächeln zu entschuldigen. Und nach einer Weile stützte er sich auf, griff nach seinen Galoschen und zog sie über die nackten Füße. Dann machte er eine Geste, groß und einladend, und plötzlich begann er zu reden. »Hallo, captain«, redete er in das Licht, »have we landed already?«
    Er sprach englisch mit einem abenteuerlichen sächsischen Akzent, und der Mann von der Wasserschutzpolizei erinnerte sich. Er erinnerte sich an den Alten, den sie vor mehreren Jahren aus einem wasserziehenden Boot geholt hatten, erschöpft und fertig, und er dachte daran, wie der Alte sich gegen seine Rettung zu wehren versucht hatte und wie er sie auf englisch verfluchte.
    Er sprach nur englisch mit ihnen, obwohl er aus Sachsen stammte, und in seinem Kopf war nur der Gedanke an Louisiana – er schlug um sich, im Hinblick auf Louisiana, USA, und als sie ihn überwältigt hatten und vor den Richter brachten, konnte ihn nichts auf der Welt bewegen, deutsch zu sprechen! Auch vor Gericht sprach er sein Englisch zu Ehren von Louisiana, USA. Daran dachte der Mann mit der Taschenlampe, als er den Alten auf der Schlafbank liegen sah. Und er antwortete auf englisch: »Yes, captain, we’ve landed. You’ve reached New Orleans Harbour. It’s time now.« Und der Alte warf den Rest des Mantels, der ihn bedeckt hatte, auf den Tisch: eine panische Freude ergriff ihn. Er riß ein Schapp auf, zog einen Sack heraus und stopfte Brot hinein und einen Zinnteller und ein Paar Socken; sein Gesicht war erfülltvon wilder Genugtuung, seine rissigen Lippen zitterten, und dann reckte er sich hinauf zum Bulleye und flüsterte nach einem Blick in die Dunkelheit: »Yes, we soon are in Louisiana. Let’s go.«
    Er verließ freiwillig die Kajüte, und die Männer halfen ihm hinüber auf die Barkasse und nahmen sein Boot in Schlepp. Und dann merkte er, daß man ihn hereingelegt hatte, und drei Männer waren nötig, um den Alten in seiner tobenden Enttäuschung zu halten: er verlangte sein Boot und seine Freiheit und die Einlösung seines Traums von Louisiana. Aber die Männer hörten ihn nicht und brachten ihn zum vierten Mal vor den Richter, und der Richter in seiner Weisheit forderte zum vierten Mal einen Paragraphen für Wasserstreicher. Doch da es so etwas nicht gab, mußte er den Alten wegen Landstreicherei rannehmen, wegen Landstreicherei auf dem Strom. Und der Alte vernahm alles geduckt und schweigend und mit der Unbeirrbarkeit und Unergründlichkeit seines Traums. Sie hatten ihm zum vierten Mal seinen Traum verwehrt, aber sie hatten ihn nicht zerstört, sie würden ihn niemals zerstören. Das Boot würde warten auf ihn, und Louisiana würde in seiner verzweifelten Ferne warten, bis er käme. Und als sie ihn hinausbrachten, lächelte er, und sein Lächeln war stolz und geheimnisvoll und listig: im Frühjahr würde er zum fünften Mal auf die Reise gehen, mit demselben Boot und derselben Hoffnung, und er sog prüfend die Luft ein und murmelte: »I come later, Louisiana. It’s too cold now. I surely come later. Don’t worry ... « Jetzt ist es zu kalt ... Ich komme später, Louisiana.
     
    Sieh, das ist der Hafen ... Wähl dir einen Platz und sieh ... Und du wirst Geschichten erfahren, die sich stets und immer begeben werden: Geschichten sind die geheimen, ungewogenen, ungezählten Reichtümer des Hafens, Geschichten von wunderbaren Narren und muschelbewachsenen Windjammern, von Schenken, Tauchern und Leichtmatrosen und der Garde mobile der biertrinkenden Damen ... Häfen sind die Speicher und Bühnen und die großen Umschlagplätze für Geschichten ... Odysseus’ Geschichten haben sich über Häfen verbreitet ... sie langten vor ihm in den Häfen

Weitere Kostenlose Bücher