Watermind
ihrem gelben Natriumlicht drängten sich Sumpfeichen, und weiße Platanen ragten in den düsteren Himmel. Ampeln wechselten unbemerkt von Rot auf Grün und zurück. Postangestellte kuschelten sich in ihre warmen Betten, nachdem sie ihre Wecker ausgestellt hatten, während Notschwestern sich Kaffee nachschenkten. Am menschenleeren Hafen der Stadt rauchte und zitterte der Fluss und wurde mit einem Schlag fünfzehn Grad kälter.
Die Pilgrim und die Chasseur glitten den schwarzen Strom des Mississippi hinunter, verfolgt von den Resten der Regatta. Satellitenbilder zeigten die Bewegung der fünf kleinen Ballungen des Kolloids, deren Temperatur fast genauso schnell fiel, wie sie an Volumen zunahmen. An Bord der Chasseur schreckte CJ aus dem Schlaf hoch. »Max?«
Sie hatte angezogen in einem Stuhl geschlafen, aber die Luft in der Kabine fühlte sich eiskalt an. Sie konnte ihren Atem sehen. Flüssige Perlen kondensierten an der Metalldecke, und Tröpfchen schlugen gegen das kleine runde Fenster neben ihrer Schulter. In der unteren Koje lag Roman, der sich in eine graue Decke gehüllt hatte. Am Abend war er krank gewesen. Dan Meir hatte ihr geholfen, ihn zu Bett zu bringen.
Ein Telefon klingelte – das hatte sie geweckt. Max. Sie kramte in ihrer Jeanstasche und zog das Handy hervor, das sie Peter abgenommen hatte. »Max, bist du das?« Sie hielt sich das Telefon dicht ans Ohr, aber sie hörte nur leises statisches Rauschen, wie die Brandung in einer Muschel oder wie die Strömung ihres eigenen Blutkreislaufs. »Max«, sagte sie noch einmal. Aber das Klingeln kam von anderswo.
Sie fand Romans Headset in einer Tasche seiner Windjacke. Es war Peter Vaarveen, der von der Pilgrim anrief. Sein zäher New-York-Akzent klang ungehobelt und verkatert.
»Wo ist Sacony? Ihr elektronischer Kumpel hat sich schon wieder geteilt. Ich vermute, mit unseren Strahlenkanonen haben wir ihm gezeigt, wie es geht.«
»Geteilt?«
»Ja, in zehn Stücke. Sie wissen schon, wie bei der nichtsexuellen Fortpflanzung.«
»Wir sind unterwegs.«
Sie legte sich die Windjacke über die Schultern und schüttelte Roman, um ihn zu wecken. Aber er reagierte nicht. Sie drückte ein Ohr an seine Brust und nahm einen starken rhythmischen Puls an ihrer Wange wahr. Sie zog sich zurück. Sein Haar wirkte grauer und dünner, sein Gesicht faltiger. Er war fast fünfzig. Im gleichen Alter wie Harry. Sie war in Versuchung, ihm den dringend benötigten Schlaf zu lassen. Aber wer sollte an seiner Stelle das Kommando übernehmen? Nicht die ewig zankenden Bürokraten. Nicht Dan Meir oder Peter Vaarveen. Ich auch nicht.
»Wachen Sie auf!« Sie riss seine Decke weg.
Bis auf die Schuhe vollständig angekleidet, lag er in Embryonalhaltung zusammengerollt und hatte die Hände zwischen den Knien verschränkt. Sie erschrak. Er sah so schwach und verletzlich aus. Seine verschränkten Hände machten sie verlegen. Sie wollte, dass er sich aufsetzte und sie anfauchte, damit sie zurückfauchen konnte.
Ihre Empfindungen für diesen unmöglichen Mann änderten sich wie das Wetter. Sie fuhr mit einer Fingerspitze über seine Stirn, um die Sorgenfalten zu glätten, wie sie es auch für Harry getan hatte. Dann schüttete sie ihm eine Flasche Wasser ins Gesicht.
»Wachen Sie auf, Sie Mistkerl!«
»Lo hace terminar ?« Er öffnete die Augen, blinzelnd und prustend. Wassertröpfchen hingen in seinem Haar. »Reilly?«
Sie warf seine Schuhe aufs Bett. »Sie werden gebraucht.«
88
Samstag, 19. März, 9.02 Uhr
Elaine gab CNN ein Interview. Immer neue Todesopfer rechtfertigten die landesweite Berichterstattung über das ausgelaufene Kühlmittel, und der Reporter aus Atlanta hatte sie seit Mitternacht bedrängt, ihre Version der Geschichte darzustellen. Elaine Guidry sah frisch und munter aus, wie sie auf dem kalten Hafenkai von Plaquemine stand. Zwischen den Aufnahmen rieb sie sich die Arme und witzelte mit dem Kameramann über das Winterwetter.
Dan Meir beobachtete aus dem Hintergrund, wie sie das Fernsehpublikum über Quimicrons gute Absichten aufklärte. In honigsüßem Tonfall beschrieb sie ihre wohltätigen Bemühungen, eine chemische Verschmutzung zu beseitigen, die nicht einmal von ihrer Firma verursacht worden war. Sie wanderte vom Norden flussabwärts, wie Elaine den Zuschauern anvertraute, während sie sich zur Kameralinse vorbeugte. Die Explosion der Gaspipeline stellte sie als bedauerliches Unglück dar. »Anscheinend war es Gottes Wille«, sagte sie. Als der Reporter
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