Watermind
können.
»Neeein!« Sie stürmte zum Wasser, als könnte sie den EMP mit bloßen Händen abwehren. Sie spürte beinahe, wie Harry in epileptischen Anfällen auf dem weißen Tisch zuckte und sich verkrampfte. Stechwinden rissen an ihren Stiefeln. Zweimal fiel sie in Matschpfützen, und einmal zerrte sie sich schmerzhaft das Knie. Sie stolperte die geneigte Böschung zum Kanalufer hinunter.
Als sie den Wasserrand erreichte, wurde der Kanal von einem weiteren knisternden Blitz erhellt, und sie sprang erschrocken zurück. Am Handgelenk spürte sie ein leichtes elektrisches Kribbeln, und sie bemerkte, dass ihre Digitaluhr stehengeblieben war. Würde der EMP ihr einen tödlichen Schock verpassen? Sie ließ sich rückwärts ins feuchte Gras fallen, lag keuchend und zitternd da und hatte plötzlich große Angst.
Vorsichtiger als zuvor näherte sie sich dem nördlichen Ende des Kanals, hielt sich in sicherem Abstand zum Wasser und war dankbar für ihre hüfthohen Gummistiefel. Das dichte Gestrüpp erschwerte ihr das Vorankommen. Jetzt hatte sie keinen Sinn für die glitzernde Schönheit der Pflanzen mehr. Noch viermal hörte sie das unheimliche Knistern, das jedem Helligkeitsausbruch unter Wasser vorausging.
Sie stöhnte in tiefem Kummer, als sie sich blind durchs Unterholz kämpfte. Je heftiger sie sich gegen Zweige und Ranken wehrte, desto mehr verstrickte sie sich darin. Wieder ein Knistern, wieder ein Blitz. Sie roch den widerlichen Gestank toter Frösche. Vögel schrien am Himmel. Sie wollte ihr Handy haben. Sie brauchte Hilfe. Sie brauchte Max.
56
Mittwoch, 16. März, 9.12 Uhr
Hal Butler stieß das klingelnde Telefon von der Station. Irgendwo neben seinem Ohr summte eine leise Stimme wie ein Moskito. Nicht zum ersten Mal war er auf seinem Schreibtisch eingeschlafen. Langsam löste er sich vom Haufen aus Zeitschriften, Burgerkartons und Notizbüchern, deren Spiralbindungen tiefe Abdrücke in seiner rechten Gesichtshälfte hinterlassen hatten. Seine Haare standen wie Kupferdrähte ab. Seine Augenlider fühlten sich zugeklebt an, also versuchte er gar nicht erst, sie zu öffnen. Er hustete, setzte sich auf und wäre fast aus seinem Drehstuhl gefallen. Leise Schreie drangen aus dem Telefon.
»Ja?« Er hatte den Hörer falsch herum aufgehoben und musste ihn umständlich herumdrehen.
»… hier draußen. Sie jagen das Ding in die Luft!«
»Hä? Was?« Butler wollte auf die Uhr schauen, aber da seine Augen immer noch geschlossen waren, konnte er nicht ermitteln, wie spät es war. In seinem fensterlosen Büro sickerte schwach das zeitlose Neonlicht durch seine Augenlider.
»Sie braten das verdammte neuronale Netz, Mann! Sie haben eine Maschine, wie eine Van-der-Graaf-Strahlenkanone, und damit bombardieren sie den Kanal. Das ist völlig durchgeknallt!«
Butlers Augen sprangen plötzlich auf. Er blickte auf seinen Schreibtisch, rieb sich die Augen und kippte eine offene Dose mit warmem Dixie-Bier hinunter. »Mit wem rede ich überhaupt?«
»Sie müssen sofort herkommen. In den Devil's Swamp. Ich mache die ganze Zeit Fotos.«
»Wie viel wollen Sie für die Bilder? Und was ist darauf zu sehen?«
»Ihr Loch-Ness-Monster, Mensch! Ich habe die Leute auf frischer Tat ertappt. Kommen Sie jetzt?«
Endlich erkannte Hal die Stimme. Es war einer seiner freien Gelegenheitsfotografen. »Schicken Sie mir die Bilder per E-Mail, und ich schaue sie mir an.«
»Butler, Sie sind eine verdammte Höhleneidechse.« Der Fotograf unterbrach die Verbindung.
Hal legte auf, rieb sich über das Gesicht und versuchte sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal tatsächlich vor Ort gewesen war, um über ein Ereignis zu berichten. Er betrachtete die Schrammen an seiner Metalltür. Strahlenkanonen, wow! Sein journalistisches Genie war bereits mit dem Layout der allerersten Sonderausgabe des Baton Rouge Eye beschäftigt, die unter der Woche herauskommen würde.
57
Mittwoch, 16. März, 11.34 Uhr
Seit drei Stunden blinkte das Kanalwasser. Der beißende Gestank nach Ozon und verbranntem Fisch erfüllte die Luft, als CJ endlich den Nordausläufer des Kanals umrundete und sich unermüdlich dem Quimicron-Kai näherte. Verzerrte Stimmen drangen über das Wasser zu ihr, und Krähen schrien wie feindselige Wachen. Unter einem verkümmerten Rotahorn machte sie eine Pause, um ihre Stiefel von Dornen zu befreien. Die Vegetation schien immer dschungelartiger zu werden, und sie war viel zu sehr abgelenkt und zu weit weg, um den wütenden Schrei der
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