Watermind
Zähnen auf. Normalerweise aß sie zuerst die braunen Schokolinsen, weil sie die uninteressanteste Farbe hatten. Braun war eine Mischfarbe. Harry hatte gesagt, dass sie aus allen anderen Farbresten zusammengerührt wurde.
Harry und Carolyn Joan – was für ein Traumpaar! Eltern war eine viel zu freundliche Bezeichnung für sie. Erzeuger? Vorfahren? Man sollte sie lieber Bringer des Verderbens nennen. Sie vererbten ihrem Kind ihre schlechtesten Gene und warfen ihm dann vor, dass es dieselben Fehler machte wie sie – während man doch nur danach strebte, anders, besonders, etwas Neues zu sein. CJ rieb sich die Augen.
In der Dunkelheit fühlten sich alle M&Ms gleich an, so dass sie wahllos einen herauspickte und sich in den Mund steckte. Ihr Speichel löste den Zucker zu einem flüssigen Energiestrom auf, und als er von ihrem Blutkreislauf aufgenommen wurde, fühlte sie sich wiederbelebt. Dann drang ein anderes Geräusch durch das Tröpfeln, ein schärferer Ton – eine Sirene. Das hatte sie geweckt und nicht der Regen.
Sie kroch unter dem Kai hervor und lugte über die Kante. Die Alarmsirene schwoll an und ab, und die Leute rannten umher und legten mit Booten vom Ufer ab. Offenbar gab es ein ernstes Problem. Im Durcheinander bemerkte niemand, wie ihre verdreckte Gestalt auf den verregneten Kai kletterte.
Rote Lichtstrahlen zuckten durch den Wolkenbruch und ließen die Gesichter der Menschen aussehen, als wären sie blutüberströmt. Dan Meir stürmte vorbei, gefolgt von Peter Vaarveen und Li Qin Yue. Arbeiter irrten wie aufgeschreckte Ameisen umher. CJ entdeckte Max, wie er Ausrüstung über den Kai schleppte, aber sie konnte ihn nicht auf sich aufmerksam machen. Ein paar Meter entfernt ging Roman im Flutlicht auf und ab. Der Regen hatte sein langes Haar wie ein Fell geglättet, und er drückte sich ein Handy ans Ohr. Selbst auf die Entfernung konnte CJ hören, wie wütend er war.
Sie schnappte sich jemanden aus dem Arbeiterteam, der an ihr vorbeilief, ein Gesicht, das sie wiedererkannte. Es war Betty DeCuir.
»Was ist passiert, Betty?«
Die junge Frau zuckte vor CJs schlammverschmierter Hand zurück, und ihre Augen wurden groß und rund. »Die Was ser- Loa . Hat sich einfach durch die Dichtungen von diesen Spundwänden gefressen. Ich sag dir was. Sie ist entkommen, bevor diese Strahlenkanone gefeuert hat.«
CJ hätte fast vergessen weiterzuatmen. »Das Tor ist offen?«
Betty nickte. »Niemand kann Yemanja aufhalten. Sie hat sich von selbst befreit.«
Zweiter Teil Evolution
60
Donnerstag, 17. März, 3.01 Uhr
Der Mississippi ist ein schneller und wechselhafter Gigant. Im Westen entspringt er entlang der kontinentalen Wasserscheide, fast fünf Kilometer über Meereshöhe, während er im Nordosten durch Kanäle mit dem Atlantik verbunden ist. Sein Oberlauf wird durch fast dreißig Schleusen aus schwerem Stahl und Beton erstickt und gehemmt, und weiter stromabwärts stechen Buhnen in seine Flanken, um ihn geradeaus fließen zu lassen. Wenn er vom Frühlingshochwasser angeschwollen ist, tobt er mit achtzehn Knoten durch das Herzland, bricht seine Ketten, entwurzelt Bäume und unterspült Böschungen. Danach hinterlässt er Treibholz und Sandbänke, bis seine zwergenhaften Gefängniswärter ihn wieder einfangen und einsperren.
Die Menschen haben den Fluss abwechselnd gelobt und verflucht. Zwei einheimische Stämme streiten sich darum, wer ihm zuerst seinen Namen gegeben hat. Die Ojibwa nannten ihn Messipi , und die Algonkin benutzten die Worte Missi Sepe . Beide Namen bedeuten das Gleiche: Wasseransammlung. Die erste Taufe durch einen Europäer erhielt der Fluss im Jahr 1541, als Hernando de Soto ihn als Rio de Espíritu Santo bezeichnete, als Fluss des Heiligen Geistes.
Der Mississippi, auch Big Muddy, El Grand oder Old Man River genannt, ist keine singulare Entität, sondern ein vergänglicher, vielfältiger Strom. Genauso wie ganz Amerika schlürft und schluckt der Fluss, er verdaut und spuckt wieder aus. Jedes Jahr, sogar jede Minute ändert sich sein Inhalt. Die Ufer werden abgetragen und verschoben. Das Bett versandet und muss ausgebaggert werden. Selbst die mächtige Strömung ändert immer wieder die Richtung. Über dem uralten New-Madrid-Grabenbruch kam es 1811 zu einem so heftigen Erdbeben, dass sich neue Wasserfälle bildeten und das Wasser acht Tage lang rückwärtsfloss, wodurch der Reelfoot Lake in Tennessee entstand.
In unaufhörlicher Bewegung, hat der Fluss keine materielle
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