Watersong - Wiegenlied: Band 2 (German Edition)
besorgt oder verzweifelt sie sich fühlte.
Beim Lesen merkte Harper, dass es ihr trotz allem großen Spaß machte. Sie ermunterte die Kinder, sich zu beteiligen, und als die Kleinen alle mit ihren fürchterlichen Zähnen knirschten und ihr fürchterliches Brüllen brüllten, musste sie unwillkürlich lächeln.
Alles ging gut, bis sie sich dem Ende der Geschichte näherte und die Tür aufging. Sie hob den Kopf, in der Erwartung, ein verspätetes Kind zu sehen, doch stattdessen kam Daniel herein und steuerte auf die Empfangstheke zu.
Harpers Herz hüpfte und eine Sekunde lang geriet sie aus dem Konzept. Sie stolperte über die Worte, fing sich jedoch rasch wieder, als Marcy auf die Kinderecke zeigte und Daniel sich umdrehte und sie anlächelte.
Harper wandte hastig den Blick von ihm ab, zwang sich, die kleinen Kinder vor ihr anzulächeln, und versuchte, nicht daran zu denken, wie toll Daniel heute wieder aussah.
Was Harper jedoch noch mehr aus dem Konzept brachte als ihre widersprüchlichen Gefühle, war sein Geplänkel mit Marcy. Er lehnte an der Theke, offenbar um zu warten, bis Harper mit der Geschichte fertig war, und plauderte freundlich mit ihr.
Niemand plauderte sonst freundlich mit Marcy, nicht einmal Harper, obwohl sie so ziemlich Marcys beste Freundin war.
Sie war zwar nicht eifersüchtig, aber es ärgerte sie, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, worüber die beiden sich unterhielten. Sie fürchtete, dass sie über sie redeten und dass Marcy irgendwelche schlimmen Geheimnisse von ihr ausplaudern würde.
Natürlich wusste Harper, dass es ihr egal sein müsste, was Marcy zu Daniel sagte. Tatsächlich wäre es sowieso viel besser, wenn ihre Kollegin etwas erwähnte, das sein Interesse an ihr im Keim ersticken ließ. Harper hatte einfach keine Zeit für eine Beziehung mit ihm. Und da er ihr bis jetzt noch keine Nachricht über Gemma auf der Mailbox hinterlassen hatte, war dies womöglich ein reiner Freundschaftsbesuch. Da war es sicher am besten, wenn Marcy ihn verscheuchte.
Aber… so richtig wollte Harper das auch nicht. Sie hatte zwar nicht die Zeit, sich in ihn zu verlieben, aber das bedeutete nicht, dass sie ihn nicht trotzdem gernhatte. Sie wünschte nur, es wäre nicht so.
Harper hetzte durch das letzte Viertel des Buchs und schwor sich dabei insgeheim, diese Eile bei der nächsten Vorlesestunde wiedergutzumachen. Aber die Kinder beschwerten sich nicht. Sie schienen sich einfach nur darüber zu freuen, dass sie mal wieder ausgiebig brüllen durften.
Nach der Lesung wollten ein paar der Kinder und ihre Eltern noch mit ihr sprechen, und Harper bemühte sich, sie nicht abzuwimmeln. Sie lächelte und erinnerte an den nächsten Vorlesetermin im Juli. Und als eine Mutter ihr sagte, wie sehr sie Maurice Sendak schätze, empfahl Harper ihr noch ein paar andere Bücher von ihm.
Doch sobald sie sich loseisen konnte, eilte Harper zum Schalter, wo Daniel immer noch mit Marcy plauderte.
» Nein, das bezweifle ich keineswegs«, sagte er gerade und lachte über eine Bemerkung von Marcy.
Marcys Gesicht dagegen war ausdruckslos wie immer und gab Harper nicht den kleinsten Hinweis, über was sie geredet haben könnten.
» Hallo«, sagte Harper. Ihre Stimme klang seltsam hoch in ihren Ohren und sie verbesserte sich rasch: » Hi. Äh, suchst du nach einem Buch?«
Daniel hatte sich mit beiden Armen auf der Theke aufgestützt, doch nun drehte er sich zur Seite, damit er Harper anschauen konnte. Sein Lächeln wurde breiter, als er sie sah, und sie bemerkte, dass die Schnitte auf seiner Wange allmählich verheilten.
Um Harper und ihre Schwester zu verteidigen, war Daniel auf Bernies Insel mit einer Heugabel auf Penn losgegangen, nachdem diese sich in das schreckliche Vogelmonster verwandelt hatte. Doch Penn hatte ihn attackiert und ihm mit ihren Krallen das Gesicht zerkratzt.
Bei dieser Erinnerung zog sich Harpers Herz zusammen und wurde gleichzeitig ganz warm. Der Gedanke an dieses monströse Geschöpf jagte ihr immer noch Angst ein, aber zu wissen, dass Daniel sich dieser Gefahr ausgesetzt hatte, um sie zu beschützen… Es war schwer, keine tieferen Gefühle für ihn zu empfinden.
» Welches Buch hast du vorgelesen?«, fragte Daniel und deutete auf die Vorleseecke. » Es schien ziemlich lustig zu sein.«
» Wo die wilden Kerle wohnen. Ich kann’s dir holen, wenn du willst.« Harper wollte schon davoneilen, doch Daniel legte ihr sanft die Hand auf den Arm, um sie aufzuhalten.
» Nein, lass nur«,
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