WattenMord (German Edition)
entschieden hatte. Ihr Berufswunsch, auch zur Polizei zu gehen, hatte schon in der Kindheit festgestanden, sehr zum Missfallen ihrer Mutter. „Der Job ist schlecht bezahlt und du musst dich mit Räubern, Vergewaltigern und Mördern herumärgern. Das ist nicht ungefährlich“, hatte ihre Mutter sie immer gewarnt. Doch das alles hatte Wiebke ausgeblendet, als sie sich damals auf der Polizeischule in Eutin angemeldet hatte. Und sie war stolz gewesen, als man sie schließlich zur Kriminalkommissarin ernannt hatte. Es war eine Fügung des Schicksals gewesen, dass rechtzeitig zum Ende ihrer Ausbildung eine Planstelle bei der Kripo in Husum freigeworden war. Und so war sie in den Genuss gekommen, nur zwölf Kilometer von ihrem Wohnort den Dienst antreten zu können.
„Da draußen laufen so viele Irre herum. Gewaltverbrecher, Amokläufer, psychisch gestörte Typen, die nichts im Kopf haben, außer ihren Mitmenschen Leid zuzufügen. Ich hatte Angst um dich, Papa.“
Er lächelte, doch es war ein wehmütiges Lächeln. „Und trotzdem hast du den gleichen Beruf ergriffen wie ich.“ Stolz schwang in seiner Stimme mit.
„Ja“, sagte sie. „Das habe ich. Als kleines Mädchen war ich so stolz, dass mein Papa Verbrecher ins Gefängnis brachte. Ich wusste schon damals, dass ich das auch eines Tages machen wollte.“
„Konsequent warst du schon immer“, schmunzelte Ulbricht und legte einen Arm um die Schulter seiner Tochter.
„Warum hast du mir nie geschrieben oder uns besucht?“
„Ich hätte deiner Mutter nicht in die Augen blicken können. Ich war wütend und enttäuscht, weil sie einfach mit dir abgehauen ist. Als ich von einer Geiselnahme nach einer vierundzwanzigstündigen Schicht nach Hause kam, war die Bude leer. Von jetzt auf gleich, ohne Vorwarnung. Mir war, als würde ich in ein tiefes Loch fallen. Und es gab nichts, dass an uns und die kleine Familie erinnert hat. Deine Mutter hat einfach alles mitgenommen. Alte Erinnerungen, Klamotten, Briefe, Fotos – und meine Tochter. Ich fühlte mich, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen, verstehst du das? Das Einzige, was mir geblieben war, klemmte am Spiegel im Flur. Ein kleiner Zettel, auf dem sie nur ein paar Sätze hinterlassen hatte.“ Ulbricht stopfte eine Hand in die Hosentasche und zog ein zerknittertes Blatt Papier hervor. Man hatte es aus einem kleinen Spiralblock herausgerissen, die Reste der Perforation waren ausgefranst. Das Papier selbst war vergilbt und die Schrift darauf verblichen. Sorgsam strich er das Blatt glatt, warf einen Blick darauf, dann reichte er Wiebke den Zettel.
Sie nahm den Zettel an sich und las, was darauf stand. Nur wenige Worte, die das Leben der Familie Ulbricht für immer verändert hatten.
Ich halte das nicht mehr aus. Nie bist du für deine Familie da, also heirate doch deine Verbrecher. Wiebke nehme ich mit – du hast sowieso keine Zeit für das Kind. Mach dir also keine Sorgen, es wird uns gut gehen. Gruß Birgit.
Nun hatte es Wiebke schriftlich: Den wahren Grund, weshalb ihre Mutter mit ihr in den Norden gezogen war. Natürlich hatte ihre Mutter, schon als sie Kind gewesen war kein gutes Haar an Hauptkommissar Norbert Ulbricht gelassen, dem die Verbrecherjagd immer lieber gewesen war, als seine Familie.
„Du hättest schreiben können. Wenigstens das.“
„Das habe ich“, beteuerte Ulbricht. „Ich habe Briefe geschrieben, Karten, zum Geburtstag und zu Weihnachten auch Pakete mit Geschenken. Niemals hast du mir geantwortet. Daher musste ich davon ausgehen, dass du mich hasst. Deshalb habe ich aufgehört, dir zu schreiben. Der Kontakt ist eingeschlafen, und ich habe mich mit meinem Junggesellenleben arrangiert, so gut es ging. Mein Assistent sagt immer, ich sei ein einsamer alter Wolf. Vermutlich hat er sogar recht. Doch das Alleinsein kotzt mich an. Nach dem Dienst gehe ich nach Hause, sehe die leere Bude und würde am liebsten sofort wieder abhauen. Oft genug fällt mir die Decke auf den Kopf, meistens saufe ich dann zu viel, gucke Fernsehen, schlafe irgendwann auf dem Sofa ein. Am nächsten Tag beginnt das Spiel wieder von vorn: Auf ins Präsidium, Verbrecher jagen, Einsatztagebuch schreiben, Feierabend. Leere Bude, nackte Wände, ein leeres Bett und sehr einsame und kalte Nächte.“
„Das muss doch schrecklich sein.“
„Und ob.“ Er nickte.
„Du willst einsam alt werden?“
„Das habe ich nicht gesagt. Nur ist im Moment kein Platz in meinem Leben für eine feste Partnerschaft, und
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