Waylander der Graue
trug das dunkle Hemd und die Hosen, sowie ein Paar fransenbesetzte Reitstiefel. Das Jagdmesser hing vom Gürtel, den sie um die Taille geschlungen hatte. Das lange Haar hatte sie aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Waylander stand auf. »Die Sachen passen dir gut«, sagte er. Er ging an ihr vorbei zu einem Schrank an der gegenüberliegenden Wand. Er öffnete ihn und holte eine kleine Doppelarmbrust heraus. Er rief Keeva zu sich und trug die Waffe zu einer Bank. Im Schein einer Laterne prüfte er die Armbrust und ölte die Bolzenschächte. Dann reichte er Keeva die Waffe. »Ich habe sie für meine Tochter Miriel machen lassen«, sagte er, »doch sie bevorzugte den traditionellen Jagdbogen. Sie ist erheblich leichter als meine eigene Armbrust, und die Kernschussweite beträgt nicht mehr als fünfzehn Schritte.«
Keeva wog die Armbrust in der Hand. Sie war T-förmig, ob man sie nun horizontal oder vertikal betrachtete. Der Griff ragte aus der Mitte der Waffe nach unten. Die Rückseite war abgeflacht und so geformt, dass sie sich dem Handgelenk anschmiegte. Es gab keine Auslöser aus Bronze. Zwei schwarze Stifte waren in den Griff eingelassen.
Waylander reichte nun dem Mädchen zwei schwarze Bolzen. »Lade den unteren Schacht zuerst«, riet er. Keeva gab sich Mühe. Die Mitte der unteren Sehne war innerhalb des Mechanismus verborgen. »Lass es mich dir zeigen«, sagte er.
Auf der Unterseite der Waffe befand sich ein Haken. Waylander klappte ihn auf und drückte ihn herunter. Damit wurde die untere Sehne geholt, sodass sie sichtbar wurde. Er ließ seine Finger in den Schacht gleiten, spannte die Waffe und schob einen Bolzen hinein. Dann klappte er den Haken weder um und reichte Keeva die Waffe. Sie streckte den Arm aus und schoss auf eine Zielscheibe. Er beobachtete sie beim Wiederaufladen der Waffe. Sie hatte noch immer Mühe mit der unteren Abteilung.
»Lass sie nicht zu lange im geladenen Zustand«, sagte er, »denn das leiert die Sehnen aus. Wenn du mit der Zeit Übung im Laden und Entladen bekommst, wird es einfacher.«
»Ich will nicht, dass es einfacher wird«, erklärte sie. »Ich bringe Ustarte zu diesem Ort, von dem du sprachst, aber dann kannst du diese Waffe zurückhaben. Ich sagte schon, dass ich kein Killer sein will. Das gilt immer noch.«
»Das verstehe ich, und ich bin dir dankbar«, sagt er. »Ich werde morgen am späten Nachmittag zu euch stoßen. Danach hast du mir gegenüber keinerlei Verpflichtung mehr.«
Er nahm ein Stückchen Holzkohle und ein Stück Pergament und zeichnete zwei Rauten darauf. Die erste zeigte einen nach links weisenden Pfeil, die zweite einen nach rechts weisenden. »Umgehe die Ruinen von Kuan Hador im Südwesten und dann in die Berge. Folge der Hauptstraße etwa anderthalb Kilometer weit. Dann kommst du zu einer Weggabelung. Nimm den linken Weg und folge ihm, bis du an einen vom Blitz gespaltenen Baum kommst. Reite weiter und schau dir die Baumstämme gut an, die am Weg stehen. Jedes Mal, wenn du diese Zeichen siehst, musst du entsprechend abbiegen. Dann kommst du an eine Felswand. Wenn du den Symbolen richtig gefolgt bist, befindet sich in der Nähe eine tief eingeschnittene Felsspalte. Steig ab und führe die Pferde in diese Spalte. Drinnen findest du eine große Höhle mit einer Quelle. Lebensmittel und Getreide für die Pferde sind ebenfalls vorhanden.«
Keeva ließ die Bolzen aus der Armbrust gleiten und entspannte die Sehnen. »Ich hörte die Priesterin sagen, dass du bei dem Bankett in Gefahr wärst. Warum gehst du dann?«
»Ja, warum bloß?«, erwiderte er.
»Du solltest vorsichtig sein.«
»Ich bin immer vorsichtig.«
Niallad, der Sohn des mächtigen Herzogs Elphons und rechtmäßiger Erbe des verwaisten Thrones von Drenan, stand nackt vor einem mannshohen Spiegel. Ihm gefiel nicht, was er sah. Das schmale Gesicht mit den großen blauen Augen und den vollen Lippen schien ihm zu mädchenhaft. Noch war keine Spur von Bartwuchs zu erkennen. Arme und Schultern waren noch immer knochig, trotz der vielen Wochen harter körperlicher Arbeit, die er sich gestellt hatte. Die Brust, ebenfalls haarlos, war mager, sodass man seine Rippen deutlich sehen konnte. Er sah nicht im Geringsten aus wie das Energiebündel, das sein Vater war.
Und die Ängste, die er hatte, wollten nicht verschwinden. Wenn er sich in einer Menschenmenge aufhielt, begann er immer zu schwitzen, seine Handflächen wurden feucht, sein Herz klopfte wild. Er
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