Waylander der Graue
dass du eine Tochter hast. Wo ist sie jetzt?«
»Sie ist gestorben.«
»Hast du getrauert?«, fragte Chardyn. Seine Summe war tief und zwingend.
»Getrauert? Ja. Vermutlich habe ich das.«
»Hast du getrauert?«, fragte Chardyn erneut.
Aric blinzelte. Die Stimme des Mannes war fast hypnotisch. »Wie kannst du es wagen, mich auszufragen?«, plusterte er sich auf. »Du bist ein Verfolgter … ein Krimineller. Jawohl, ein Verräter!«
»Warum hast du nicht getrauert Aric?«
»Hör auf damit!«, schrie der Adlige und weh einen Schritt zurück.
»Was haben sie dir angetan, mein Junge? Ich sah dich mit diesem Kind. Du hast es eindeutig geliebt.«
»Geliebt?« Einen Augenblick lang war Aric verdutzt, und er wandte sich ab, sein Dolch war vergessen. »Ja … ich scheine mich zu erinnern, dass ich fühlte …«
»Was hast du gefühlt?«
Aric drehte sich wieder um. »Ich will nicht darüber reden, Priester. Wenn du jetzt gehst, werde ich nicht melden, dass ich dich gesehen habe. Geh einfach. Ich muss … muss mit Rotschopfreden.«
»Du musst mit mir reden, Aric«, sagte Chardyn. Aric starrte den kräftig gebauten Priester an und merkte, wie er ihm in die tiefen, dunklen Augen sah. Er konnte den Blick nicht abwenden. Chardyns Blick schien ihn festzuhalten. »Erzähl mir von dem Kind. Warum hast du nicht um es getrauert?«
»Ich … ich weiß nicht«, gestand Aric. »Ich fragte Eldicar … in der Nacht der Morde. Ich konnte nicht begreifen, warum ich so reagierte, wie ich es tat. Ich fühlte … nichts. Ich fragte, ob ich etwas verloren hätte, als er mir meine … Jugend zurückgab.«
»Was hat er gesagt?«
»Er sagte, ich hätte nichts verloren. Nein, das stimmt nicht ganz. Er sagte, ich hätte nichts verloren, das für Kuan Hador von Wert wäre.«
»Und jetzt willst du Lalitia töten?«
»Ja. Es würde mir Spaß machen.«
»Denk zurück, Aric. Denk an den Mann, der mit seinem Kind an diesem See saß. Hätte es ihm Spaß gemacht, Lalitia zu töten?«
Aric riss seinen Blick von dem Priester los und setzte sich. Er betrachtete den Dolch in seiner Hand. »Du bringst mich durcheinander, Chardyn«, sagte er und merkte dabei, dass in seinem Kopf ein pochender Schmerz tobte. Er legte den Dolch vor sich auf den Tisch und begann sich die Schläfen zu reiben.
»Wie hieß deine Tochter?«
»Zarea.«
»Wo ist die Mutter?«
»Sie ist auch gestorben.«
»Wie ist sie gestorben?«
»Ich habe sie erwürgt. Sie wollte nicht aufhören zu weinen, verstehst du?«
»Hast du auch deine Tochter getötet?«
»Nein. Das war Eldicar. Ihre Lebenskraft war sehr stark. Sie verlieh mir größere Jugend und Kraft. Du kannst doch bestimmt sehen, wie gut ich jetzt aussehe.«
»Ich sehe weit mehr als das«, sagte Chardyn.
Aric blickte auf und sah, wie ihn Lalitia mit einem Ausdruck von Abscheu anstarrte.
Chardyn kam näher und setzte sich neben Aric auf die Couch. »Du hast mir einmal erzählt, dass Aldania gut zu dir war. Erinnerst du dich?«
»Ja. Meine Mutter war gestorben, und Aldania lud mich ins Schloss in Masyn ein. Sie hat mich getröstet, als ich weinte.«
»Warum hast du geweint?«
»Meine Mutter war gestorben.«
»Deine Tochter ist gestorben. Hast du geweint?«
»Nein.«
»Erinnerst du dich, was du empfunden hast, als deine Mutter starb?«, fragte Chardyn.
Aric blickte in sich hinein. Er konnte den Mann sehen, der er einst gewesen war, konnte die Tränen fließen sehen, aber er hatte keine Ahnung mehr, warum der Mann weinte. Es war höchst sonderbar.
»Du hattest Recht, Aric«, sagte Chardyn leise. »Du hast etwas verloren. Oder besser gesagt, Eldicar Manushan hat es dir gestohlen. Du hast jedes Verständnis für Menschlichkeit, Mitgefühl, Freundlichkeit und Liebe verloren. Du bist nicht mehr menschlich. Du hast eine Frau ermordet, die dich liebte, und du hast der Ermordung eines Kindes zugestimmt, das du vergöttert hast. Du hast Anteil gehabt an einem unheiligen Massaker, in dem Aldania, die freundlich zu dir gewesen war, brutal ermordet wurde.«
»Ich … ich bin jetzt unsterblich«, sagte Aric. »Das ist es, was zählt.«
»Ja, du bist unsterblich. Unsterblich und gelangweilt. An jenem Tag am See hast du dich nicht gelangweilt. Du hast gelacht. Es war ein schöner Klang. Du warst glücklich. Niemand musste sterben, um dir Vergnügen zu bereiten. Kannst du nicht sehen, wie sie dich ausgetrickst haben? Sie haben dir ein längeres Leben gegeben und alle Gefühle genommen, die du brauchst, um dieses längere
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