Waylander der Graue
Kysumu.
»Nicht gerade ein tröstlicher Gedanke«, meinte Matze Chai und entschied, dass er nicht den Wunsch nach weiteren Erklärungen verspürte. Er verabscheute Aufregung jeder Art, und auf dieser Reise hatte es bereits zu viele Zwischenfälle gegeben. Jetzt sah es so aus, als ob die schiere Anwesenheit Kysumus noch mehr Abenteuer gewährleistete.
Er schob alle Gedanken an Dämonen und Schwerter von sich, schloss die Augen und stellte sich seinen Garten mit den duftenden, blühenden Bäumen vor. Dieses Bild beruhigte ihn.
Von draußen drang heiserer Gesang herein. Der Grabenbauer sang mit lauter, schrecklich dissonanter Stimme. Matze Chai riss die Augen auf. Das Lied war in einem breiten nördlichen Kiatze-Dialekt und handelte von den körperlichen Vorzügen und der ungewöhnlichen Körperbehaarung einer jungen Hure.
Ein leiser Schmerz setzte hinter Matze Chais linkem Auge ein.
Kysumu läutete die Glocke, und die Sänfte kam ohne Ruck zum Stehen. Der Rajnee öffnete die Tür und sprang leichtfüßig zu Boden. Der Gesang brach ab.
Matze Chai hörte den lauten Dummkopf sagen: »Aber die nächste Strophe ist echt lustig.«
Lalitia war eine Frau, die nicht leicht zu überraschen war. Sie hatte alles, was es über Männer zu wissen gab, schon im Alter von vierzehn Jahren gelernt, und ihr Überraschungsvermögen war schon lange davor erschöpft gewesen. Mit acht Jahren war sie zur Waise geworden und lebte in der Hauptstadt auf der Straße. Sie hatte gelernt zu stehlen, zu betteln, davonzulaufen und sich zu verstecken. Sie schlief im Sand unter den Anlegestegen und kauerte sich manchmal im Dunkeln zusammen und beobachtete, wie Meuchelmörder Opfer zum Steg schleppten, um sie dann niederzustechen und ins Wasser zu werfen. Sie hatte gelauscht, wenn die billigen Kneipenhuren ihrem Gewerbe nachgingen und es mit ihren Freiern im Schatten des Mondes trieben. Bei vielen Gelegenheiten war sie in der Nähe, wenn die Offiziere der Wache vorbeikamen, um ihr Schweigegeld von den Kneipenhuren zu kassieren, ehe sie sich nacheinander kostenlos mit ihnen vergnügten.
Das rothaarige Kind lernte schnell. Mit zwölf war sie Anführerin einer Bande von jugendlichen Taschendieben, die überall auf den Marktplätzen arbeiteten und ein Zehntel ihrer Einnahmen an die Wache zahlten, um zu gewährleisten, dass sie nie geschnappt wurden.
Zwei Jahre lang hortete Lalitia – oder Rotfuchs, wie man sie damals nannte – ihre Einnahmen und versteckte ihr Geld, wo niemand es finden konnte. Sie verbrachte ihre freie Zeit damit, in Gassen zu hocken und die Reichen zu beobachten, wie sie ihre Mahlzeiten in den besseren Lokalen einnahmen und wie die großen Damen sich bewegten und sprachen, die matte Anmut, die sie zur Schau stellten, den leicht gelangweilten Ausdruck, den sie in der Gegenwart von Männern annahmen. Sie hielten den Rücken immer gerade, ihre Bewegungen waren langsam, geschmeidig, selbstsicher. Ihre Haut war cremeweiß, niemals von der Sonne gebräunt nicht einmal berührt. Im Sommer trugen sie breitkrempige Hüte mit zarten Schleiern. Rotfuchs sah zu, sog ihre Bewegungen in sich auf und verstaute sie sorgfältig in den Speichern ihres Gedächtnisses.
Mit vierzehn hatte das Glück sie verlassen. Während sie vor einem Kaufmann davonrannte, dessen Geldbeutelriemen sie geschickt durchschnitten hatte, war sie auf einer vergammelten Frucht ausgerutscht und schwer auf die Pflastersteine gestürzt. Der Kaufmann hatte sie festgehalten, bis die Soldaten der Wache kamen und sie davonschleppten.
»Diesmal kann ich dir nicht helfen, Rotfuchs«, hatte einer von ihnen gesagt. »Du hast gerade Vanis ausgeraubt, und das ist ein wichtiger Mann.«
Der Stadtrat hatte sie zu zwölf Jahren verurteilt. Sie saß drei davon in einem rattenverseuchten Verlies ab, bis sie eines Tages ins Büro des Gefängnisvorstehers gerufen wurde, eines jungen Offiziers namens Aric. Er war schlank und hatte kalte Augen, wenn er auch auf eine etwas liederliche Art ganz gut aussah.
»Ich habe dich heute Morgen an der Mauer entlanggehen sehen«, sagte Aric zu dem siebzehnjährigen Mädchen. »Du scheinst kein Bauernmädchen zu sein.«
Rotfuchs hatte die ihr zustehende Stunde Tageslicht damit verbracht, die Bewegungen zu üben, die sie bei den großen Damen der Hauptstadt beobachtet hatte. Sie sagte nichts zu dem Offizier. »Komm näher, lass mich dich anschauen«, sagte er. Sie trat vor. Er ging auf sie zu, schrak aber plötzlich zurück. »Du hast ja Läuse«,
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