Waylander der Graue
und es in seiner Börse nicht einmal merken würde.
Sie lehnte sich in ihr Seidenkissen zurück und betrachtete den großen, kräftig gebauten Mann am Fenster.
»Habe ich dir eigentlich schon für den Diamantenanhänger gedankt, Grauer Mann?«, fragte sie.
»Ich glaube schon«, antwortete er. »Und recht beredt. Also sag mir, warum möchtest du nicht zu meinem Bankett kommen?«
»Ich fühle mich schon seit ein paar Tagen nicht ganz wohl. Es wäre besser für mich, wenn ich mich ausruhen würde, glaube ich.«
»Vor einigen Augenblicken schienst du noch ganz wohlauf«, bemerkte er trocken.
»Das liegt daran, dass du so ein ausgezeichneter Liebhaber bist. Wo hast du das nur gelernt?«
Er antwortete nicht, sondern schaute aus dem Fenster. Komplimente glitten von ihm ab wie Wasser von einer Schiefertafel.
»Liebst du mich?«, fragte sie. »Wenigstens ein bisschen?«
»Ich mag dich«, antwortete er.
»Warum erzählst du mir dann nie etwas über dich? Du kommst jetzt seit zwei Jahren zu mir, und ich weiß nicht einmal deinen richtigen Namen.«
Er richtete seine dunklen Augen auf sie. »Ich den deinen auch nicht«, sagte er. »Es spielt auch keine Rolle. Ich muss jetzt gehen.«
»Sei vorsichtig«, bat sie plötzlich zu ihrem eigenen Erstaunen.
Er sah sie aufmerksam an. »Wovor?«
Sie war verwirrt. »Es gibt Gerede in der Stadt … du hast Feinde«, schloss sie lahm.
»Vanis der Kaufmann? Ja, das weiß ich.«
»Er könnte … Männer anheuern, um dich zu töten.«
»Allerdings. Bist du sicher, dass du nicht zu meinem Bankett kommen willst?«
Sie nickte. Wie immer verließ er das Zimmer ohne ein Abschiedswort. Die Tür schloss sich hinter ihm.
Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!, schalt sie sich selbst. Sie hatte von Aric gehört, dass Vanis überlegte, ob er ihn ermorden lassen sollte. Wenn sein Gläubiger tot war, könnte Vanis seinen Bankrott abwenden. Aric hatte sie gewarnt, kein Wort zu verraten. »Es sollte ein überraschender Abend werden«, hatte er gesagt, »der reiche Bauernlümmel in seinem eigenen Palast umgebracht. Ein recht denkwürdiges Ereignis, würde ich meinen.«
Lalitia war zuerst verärgert gewesen, denn dann gäbe es keine Geschenke mehr, aber nach zwei Jahren wusste sie genau, dass der Graue Mann sie nicht heiraten würde. Ebenfalls wusste sie von seinen Besuchen bei einer anderen Kurtisane im Süden der Stadt. Bald würde er gar nicht mehr zu ihr kommen. Aber der Tag verging, und sie konnte nicht aufhören, an sein Ableben zu denken.
Aric war immer gut zu ihr gewesen, doch wenn sie ihn verriet, würde er nicht zögern, sie umbringen zu lassen. Trotzdem hätte sie es fast riskiert, dem Grauen Mann um ein Haar erzählt, dass die Mörder schon warteten.
»Ich liebe ihn nicht«, sagte sie laut. Lalitia hatte noch nie einen Menschen geliebt. Warum also, fragte sie sich, wollte sie ihn retten? Zum Teil, vermutete sie, weil er nie versucht hatte, sie zu besitzen. Er bezahlte für sein Vergnügen und war niemals grausam oder herablassend, verurteilte sie nicht und versuchte nicht, sie zu bevormunden. Weder stellte er ihren Lebensstil in Frage noch erteilte ihr Ratschläge.
Sie stand vom Bett auf und ging nackt zum Fenster, wo er nur Augenblicke zuvor gestanden hatte. Lalitia sah ihn auf seinem grauen Wallach durch das offene Tor reiten, und Traurigkeit legte sich schwer über sie.
Aric nannte ihn einen reichen Bauernlümmel, aber er hatte nichts Bäuerisches an sich. Er strahlte Macht und Zielstrebigkeit aus. Er hatte etwas Elementares an sich. Etwas Unnachgiebiges.
Lalitia musste plötzlich lächeln. »Ich glaube nicht, dass sie dich töten werden, Grauer«, flüsterte sie.
Die Worte und die gehobene Stimmung, die sich danach einstellte, überraschten sie.
Das Leben konnte sie doch immer noch sehr überraschen, wie es schien.
Keeva war noch nie bei einem Fest der Adligen gewesen, wenn sie auch als Kind die eleganten Kutschen der Wohlhabenden gesehen und einen Blick auf die Damen in Samt und Seide erhascht hatte, die zu solchen Festen fuhren. Jetzt stand sie an der westlichen Wand der Großen Halle, ein silbernes Tablett in den Händen mit einer Auswahl kunstvoll zubereiteter Pastetchen, die mit Käse oder gewürztem Fleisch gefüllt waren. Sie war eine von vierzig Bediensteten, die zwischen den zweihundert Gästen des Grauen Mannes umhergingen.
Noch nie hatte Keeva so viel Seide, so viele Juwelen gesehen: goldene Armreifen, besetzt mit kostbaren Steinen, Ohrringe, die im Licht von
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