Waylander der Graue
Eldicar. »Noch einmal vielen Dank.« Der Magier nahm den Jungen bei der Hand, ging durch den Saal und verschwand in der Menge.
Die Musiker, die nicht recht wussten, was sie tun sollten, begannen wieder zu spielen, doch die Musik verebbte, als niemand tanzte. Dann begannen die ersten Adligen zu gehen.
Nach wenigen Minuten war die Große Halle leer, und Keeva und die anderen Bediensteten räumten Becher, Krüge und Teller weg, ehe sie mit Eimern, Schrubbern und Lappen zurückkehrten. Als sie fertig waren, war nichts mehr davon zu sehen, dass hier Hunderte von Gästen getanzt und getrunken hatten.
In der Küche, beim Abwasch, hörte Keeva zu, wie sich die anderen Mädchen über das fehlgeschlagene Attentat unterhielten. Sie erfuhr, dass die beiden jungen Männer Neffen des Kaufmanns Vanis waren, aber niemand hatte eine Ahnung, warum sie versuchen sollten, den Herrn umzubringen. Die Mädchen sprachen davon, wie viel Glück der Herr gehabt hatte und wie gut es war, dass er den ersten Attentäter mit einem Schlag getötet hatte.
Als der neue Tag hereinbrach, ging Keeva auf ihr Zimmer. Sie war müde, doch ihre Gedanken überschlugen sich von den Ereignissen der Nacht, und sie setzte sich für eine Weile auf ihren Balkon und betrachtete die Sonnenstrahlen, die wie Gold auf dem Wasser der Bucht glitzerten.
Woher hatte er gewusst, dass er in Gefahr war, wunderte sie sich. Bei dem Lärm der Musik hätte er den Mann nicht herankommen hören können. Und doch hatte er den Stich im Umwenden abgewehrt. Seine Bewegungen waren geschmeidig gewesen und nicht überhastet. Sie stellte sich die Szene noch einmal vor und schauderte. Keeva hatte keinen Zweifel, dass der Todesstoß auf die Kehle des jungen Mannes nicht - wie die anderen Mädchen meinten – ein glücklicher Treffer gewesen sei. Er war kalt und mit tödlicher Absicht ausgeführt, in einer Bewegung, aus der lange Übung sprach.
Was bist du, Grauer Mann?, fragte sie sich.
Waylander verließ den Ballsaal und ging durch den Korridor im zweiten Stock, der zum Südturm führte. Als er um die erste Ecke bog, schob er einen Samtbehang beiseite und drückte auf einen kleinen Knauf an der dahinter liegenden vertäfelten Wand. Es gab ein leises Knirschen, als sich die Vertäfelung öffnete. Er trat hindurch, schob die Vertäfelung weder an ihren Platz und stand jetzt in völliger Finsternis. Ohne zu zögern, begann er die verborgenen Stufen hinunterzusteigen. Er war jetzt wütend und unternahm keinen Versuch, seine Wut zu unterdrücken. Er kannte die beiden jungen Männer, die ihn angegriffen hatten, hatte bei verschiedenen Gelegenheiten mit ihnen gesprochen, wenn sie in Begleitung ihres Onkels, des Kaufmanns Vanis, gewesen waren. Sie waren nicht sehr intelligent, aber auch nicht gerade dumm. Sie waren in jeder Hinsicht nette junge Adlige, vor denen ein Leben voller Möglichkeiten lag.
Stattdessen lag nun einer von ihnen in einem verdunkelten Zimmer und wartete darauf, dass jemand kam und seinen Leichnam abholte, der dann in die Erde versenkt würde, um dort Würmer und Maden zu ernähren. Und sein Schatten würde durch die Leere wandern und über den nächsten Schritt nachdenken, ohne zu erkennen, dass er dem Tod gegenüberstand.
Waylander zählte beim Gehen die Stufen. Einhundertundvierzehn waren in die Felswand gehauen worden, und als er die hundertste erreichte, sah er einen schwachen Schimmer Mondlicht unter sich.
Er blieb an der Hecke stehen, die den unteren Eingang verbarg, dann schlich er um sie herum und ging über die Felsen, die zu dem gewundenen Pfad führten. Der Himmel war klar, die Nacht warm. Er blickte zu den Fenstern und der Terrasse der Großen Halle, die weit oberhalb von ihm lagen. Es waren noch immer ein paar Leute dort, doch sie würden bald aufbrechen.
Wie er auch.
Morgen wollte er Matze Chai aufsuchen und ihm seine Pläne enthüllen. Der Kiatze würde entsetzt sein, das wusste er. Der Gedanke heiterte ihn kurz auf. Matze Chai war einer der wenigen Menschen, denen Waylander vertraute und die er zugleich mochte. Der Kaufmann war kurz vor dem Fest eingetroffen. Waylander hatte Omri geschickt, um Matze Chai die Zimmerflucht zu zeigen, die für ihn vorbereitet war, und ihm Waylanders Entschuldigung zu überbringen, dass er nicht da war, um ihn zu begrüßen. Als Omri zurückkam, wirkte er verwirrt und aufgebracht.
»Gefielen ihm die Zimmer?«, hatte Waylander gefragt.
»Er deutete an, sie würden ›ausreichen‹«, antwortete Omri. »Dann ließ er
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