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Waylander der Graue

Waylander der Graue

Titel: Waylander der Graue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Gemmell
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tief in den Mund gestopft. Er ging zum Balkon, wartete darauf, dass die Wachen vorbeigingen und kletterte dann in den Garten hinunter.
    Sobald er über die Mauer war, schlenderte er durch die fast menschenleeren Straßen von Carlis, stieg in das kleine Boot, das er im Hafen vertäut hatte, und ruderte über die Bucht zurück.
    Im Boot hatte ihn das Schuldgefühl übermannt. Er hatte das Gefühl zuerst nicht deuten können, sondern es auf das gleiche Unbehagen geschoben, das er seit Monaten empfand, die Unzufriedenheit über dieses Leben in Reichtum und Überfluss. Aber es war mehr als das.
    Ja, Vanis hatte verdient zu sterben, aber indem er ihn tötete, war Waylander – wenn auch nur kurz – zu einer Lebensweise zurückgekehrt, die ihn einst mit Verachtung und Scham erfüllt hatte: zu jenen dunklen Tagen, als er Waylander der Schlächter war, ein gedungener Killer. Er wusste in diesem Augenblick, warum sein Schuldgefühl wuchs. Die Tat hatte ihn an einen unschuldigen, unbewaffneten Mann erinnert, durch dessen Ermordung Waylander einen furchtbaren Krieg entfacht hatte, der Tausende das Leben kostete.
    Das kann man nicht vergleichen, versuchte er sich zu beruhigen: einen König von Drenai und einen dicken, mörderischen Kaufmann.
    Waylander trat nackt in das erste goldene Licht des Tages hinaus und ging zu der Terrasse, wo ein kleiner Wasserfall über Steine sprudelte. Er watete in den flachen Teich darunter und stellte sich unter das herabströmende Wasser, halb in der Hoffnung, dass es seine bitteren Erinnerungen fortspülen würde. Niemand konnte die Vergangenheit ändern, das wusste er. Wenn er es könnte, würde er zurück zu dem kleinen Hof reiten und Tanya und die Kinder vor den Räubern retten. In seinen Albträumen sah er sie noch immer ans Bett gefesselt und die klaffende, blutige Wunde in ihrem Bauch. In Wirklichkeit war sie schon tot gewesen, als er sie fand, doch in seinen Träumen lebte sie noch und rief um Hilfe. Ihr Blut war auf den Boden geflossen, die Wände hinauf und über die Decke. Rote Tropfen fielen wie Regen im Zimmer. »Rette mich!«, rief sie. Und er zerrte an den blutgetränkten Stricken, ohne die Knoten lösen zu können. Immer erwachte er zitternd und schweißgebadet.
    Der Wasserfall floss über ihn, kalt und erfrischend, und wusch das getrocknete Blut von seinen Händen.
    Er stieg aus dem Wasser und setzte sich auf einen weißen Marmorblock, um sich von der Sonne trocknen zu lassen. Man konnte immer Entschuldigungen für seine Taten finden, dachte er, und in seinen Dummheiten oder Gemeinheiten einen Sinn suchen. Letztendlich jedoch musste jeder für seine Taten einstehen und sich vor dem Seelengericht dafür verantworten.
    Was wirst du sagen?, überlegte er. Welche Entschuldigungen wirst du vorbringen?
    Es stimmte: Wenn die Räuber nicht seine Familie getötet hätten, wäre aus Dakeyras niemals Waylander geworden. Wäre er nicht zu Waylander geworden, hätte er dem letzten König der Drenai nicht das Leben genommen. Vielleicht wäre dann der schreckliche Krieg mit Vagria niemals geschehen. Hunderte von Dörfern und Städten wären nicht niedergebrannt und Tausende von Menschen hätten nicht sterben müssen.
    Die Schuld vermischte sich mit Trauer, als er so in der Sonne saß. Es schien Waylander heute unglaublich, dass er einst ein Drenai-Offizier gewesen war, verliebt in eine sanfte Frau, die sich nichts mehr wünschte, als auf einem eigenen Stück Land eine Familie aufzuziehen. Er konnte sich kaum noch an die Gedanken und Träume dieses jungen Mannes erinnern. Eins war jedoch gewiss: Der junge Dakeyras hätte sich niemals verkleidet, um einen unbewaffneten Mann in seinem Bett zu töten.
    Waylander schauderte bei dem Gedanken.
    Und wieder war Waylander weit gereist, hatte das ferne Land Kydor gewählt und versucht sich in einem Leben voller Reichtum und Überfluss zu versenken.
    Doch jetzt war er wieder zum Mörder geworden. Nicht aus Notwendigkeit, sondern aus falschem Stolz.
    Es war kein angenehmer Gedanke.
    Vielleicht, dachte er, wenn das Schiff in zehn Tagen kommt und ich über das Meer reise, finde ich ein Leben ohne Gewalt und Tod. Eine Welt ohne Menschen, ein weites Land mit hohen Bergen und klaren Bächen.
    Dort könnte ich zufrieden sein, entschied er.
    Tief in seinem Inneren konnte er fast das spöttische Lachen hören.
    Du wirst immer Waylander der Schlächter bleiben. Das ist deine Natur.
    Er hatte im Laufe der Jahre so oft versucht sein Leben zu ändern. Er hatte

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