Weber David - Schwerter des Zorns - 3
dem silbernen Griff stützte,
stand sie sehr gerade. In der Linken hielt sie ein Buch, in dem sie mit
einem Finger die Stelle offen hielt, wo sie gerade gelesen hatte. Ihre
goldene Lesebrille, eine Arbeit der Zwerge, hatte sie auf die Stirn geschoben. Trotz ihres langen Gewandes konnte man sehen, dass sie
ihre rechte Hüfte etwas anhob und ihr rechtes Bein ein wenig
schwächer, weniger muskulös und dünner war als ihr linkes. Ungeachtet dessen und trotz der silbernen Fäden in ihrem Haar war sie
eine wunderschöne Frau mit einer sehr weiblichen Figur und einem
großen, festen Busen, um den Leeana sie beneidet hatte, solange sie
zurückdenken konnte. Die Frau war größer als Dame Kaeritha,
wenn auch nicht so groß wie Leeana, und ihre Augen wiesen dieselbe, jadegrüne Farbe auf wie die von Leeana.
»Guten Tag, Mutter.« Leeana lächelte zaghaft. »Ich kann dich sicher nicht überreden weiterzulesen, damit ich mich unbemerkt in
mein Zimmer schleichen und umziehen kann?«
»Nein«, erwiderte Baronin Hanatha nachdenklich. »Das kannst du
nicht.«
»Ich habe es befürchtet.« Leeana seufzte, drehte sich um und ging
zu ihrer Mutter. Den tropfenden Poncho hatte sie immer noch über
dem Arm.
»Hat du deinen Ausritt genossen?«, fragte Hanatha höflich, während sie in ihren privaten Salon trat und ihre Tochter auch hereinbat.
»Ja, das habe ich.« Leeana trat zu dem schmiedeeisernen Funkenschutz vor dem Kamin des Zimmers und hängte ihren nassen Poncho zum Trocknen darüber. Dann wandte sie sich zu Hanatha um,
die lächelnd den Kopf schüttelte und sich in einen gepolsterten Sessel setzte, der über dem regenüberfluteten Oberlicht der gemütlichen Kammer stand.
»Wohin bist du geritten?«, erkundigte sie sich. Das leise Knistern
des Feuers und das Trommeln des Regens auf dem Glas bildeten für
ihre Stimme einen beruhigenden Hintergrund. Leeana rieb sich die
Hände vor dem wärmenden Kamin.
»Den Fluss hinunter und dann die Böschung hinauf zu Schnapphahns Spitze.«
»Ah, ich erinnere mich.« Hanatha lehnte sich in dem Sessel zurück, während ein träumerischer Ausdruck in ihre Augen trat.
»Durch die Senke vor Jarghams Hof. Blühen noch immer die Krokusse an der Böschung über dem Gehöft?«
»Ja.« Leeana räusperte sich leise. »Ja, das tun sie. Rot und gelb. Obwohl«, fuhr sie lächelnd fort, »es fast scheint, als versuchte der Regen ihre Farbe wegzuwaschen.«
»Das kann ich mir vorstellen. Ich nehme an, der Fluss führt Hochwasser. Sag mir, dass du nicht so dumm warst zu versuchen, die
Furt unter der Spitze zu durchqueren.«
»Natürlich nicht!« Leeana warf ihrer Mutter einen fast schon beleidigten Blick zu. »Niemand wäre so verrückt, das zu versuchen,
wenn der Fluss schon mehr als zwanzig Meter über beide Ufer getreten ist.«
»Nicht?« Hanatha sah ihre Tochter einen Augenblick lang an, legte
den Kopf auf die Seite und lächelte. »Dein Vater und ich waren so
verrückt, in dem Jahr vor unserer Eheschließung. Allerdings war
der Fluss damals nur fünfzehn Meter über die Ufer getreten, wenn
ich mich recht entsinne.«
Leeana starrte ihre Mutter ungläubig an. Hanatha erwiderte ihren
Blick gelassen.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass ihr beide so etwas getan
habt!«, erklärte Leeana schließlich. »Da ihr mir wegen der Gefahr für
die Erbfolge immer so zusetzt, falls mir etwas passieren sollte. Vater
war immerhin der offizielle Thronfolger von Balthar, nicht nur der
wahrscheinliche Erbe!«
»Ja.« Hanatha wirkte nachdenklich. »Ich glaube doch, das war mir
damals auch schon klar, jetzt, da du es sagst, fällt es mir ein. Obwohl
man ehrlicherweise zugeben muss, dass es auch noch deinen Onkel
Garlayn gab, also war Tellian nicht der einzige Erbe. Außerdem hatte er mehrere robuste, gesunde männliche Cousins, die ebenfalls die
Nachfolge hätten antreten können. Trotzdem war es zugegebenermaßen höchst närrisch von uns beiden. Und es war übrigens meine
Idee, Leeana.«
Leeana ließ sich auf den Schemel vor dem Sessel ihrer Mutter sinken und betrachtete sie. Sie hatte schon viele Geschichten über die
jugendliche, heißblütige Aufsässigkeit ihrer Mutter gegen die erstickenden Regeln gehört. Angesichts des Theaters, das ihre Eltern bei
jeder noch so kleinen Missetat von Leeana veranstalteten, hatte sie
jedoch insgeheim angenommen, dass die meisten dieser Geschichten
schamlos übertrieben waren. Schließlich hatte Leeana aus zweiter
und dritter Hand davon erfahren, durch den Tratsch der Bediensteten – und
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