Wechsel-Wind
seltsame junge Mann nickte. Mary wußte natürlich, daß Nimbys Hilfe von unschätzbarem Wert war, aber persönlich fand sie ihn furchteinflößend; an ihm war etwas vollkommen Fremdes, das sie nicht einordnen konnte. Chlorine zog sie bei weitem vor, obwohl diese, wenn auch nur in ihrer gewöhnlichen Gestalt, überaus unscheinbar war – aber auch vollkommen menschlich.
Wenigstens bewiesen Jim und die Kinder einige Vorsicht, indem sie für den Fall, daß die Monstren sie doch noch einholten, von selbst im Innern des Wohnmobils blieben. Sie alle beobachteten, wie eine Wolke sich aus der Wolkenbank über der Kluft löste und in ihre Richtung trieb. An der Unterseite war eine Art nebliger Kiel zu erkennen.
O nein! Das wird doch wohl nicht unsere Fähre sein? Mary behielt ihren schrecklichen Verdacht für sich und hoffte, sich zu irren.
Aber leider irrte sie sich nicht. Die Wolke legte direkt vor dem Straßenende an der Abbruchkante an; sie wirkte irgendwie – solide, doch das konnte ja wohl nicht wahr sein.
Jim sah Nimby an. Mary wünschte, er würde sich nicht ständig von dem seltsamen Kerl leiten lassen. »Darauf?«
Nimby nickte.
»Ja, das ist wohl die Fähre«, sagte Chlorine. »Als ich die Spalte überquerte, benutzte ich eine Nacht-und-Nebel-Aktion.«
Jim startete wieder den Motor. »Jim!« rief Mary erschrocken.
Er sah zu ihr nach hinten. »Bisher konnten wir uns auf ihren Rat verlassen. Warum sollten wir ihnen nun plötzlich nicht mehr vertrauen?«
Mary schluckte und fühlte sich bleich – ganz bestimmt war sie bleich. »Fahr bitte langsam und vorsichtig.«
Jim tastete sich mit dem Wagen vor. Die Vorderräder stießen sachte gegen die Wolke und behielten Boden; sie war so fest, wie sie aussah.
»Meine Güte!« rief David, der abwechselnd nach vorn und nach unten blickte.
»Glaubt ihr eigentlich an Gruppenalpträume?« fragte Sean rhetorisch.
Jetzt ganz bestimmt! dachte Mary, sagte aber kein Wort.
»Selbstverständlich gibt es Gruppen von Alpträumen«, antwortete Chlorine. »Immer dann, wenn Nachtmähren in Gruppen ausziehen. Sie bringen den Leuten, die es nicht anders verdienen, die Alpträume. Kommen sie denn nicht auch nach Mundanien?«
»Aber sicher«, entgegnete Karen. »Zu mir andauernd.«
»Mir kommt es so vor, als würden wir nicht ganz die gleiche Sprache sprechen«, sagte Sean. »Sprichst du nun von Träumen, Chlorine, oder von noch mehr Fabelwesen?«
Eine weitere Sache, über die Mary sich Gedanken machte: über die Wirkung, die ein bezauberndes junges Mädchen wie Chlorine auf einen leicht zu beeindruckenden Siebzehnjährigen hatte. Seans Blicke hafteten auf ihr, als würden sie von Magneten angezogen; er versuchte seine Faszination zu verbergen, aber Mary entging sie nicht. Chlorine legte es nicht im geringsten darauf an, zu flirten oder kokett zu sein, aber das brauchte sie auch gar nicht.
Allein ihre Gegenwart war mehr als ausreichend. Ganz offenkundig hatte sie nicht viel Erfahrung damit, schön zu sein; sie neigte dazu, zu viel nackte Haut sehen zu lassen, und das wirklich unabsichtlich. Das Mädchen war völlig unschuldig, und das machte die ganze Lage noch viel unbehaglicher.
»Die Träume und die Mähren«, antwortete Chlorine. »Und der Nachthengst, der über sie alle herrscht. Sie galoppieren in der Nacht, um ihre sorgfältig modellierten Schöpfungen auszutragen.«
»Pferde!« schrie David auf. Auch er war von den unbewußten Lockungen der jungen Frau wie gebannt. »Es sind echte Pferde!«
»Natürlich«, bestätigte Chlorine. »Mit der Ausnahme, daß man sie normalerweise nicht sehen kann. Man kann auch die Mähre Imbri nicht sehen, obwohl sie einem die süßen Tagträume beschert.« Einen Augenblick lang wurden ihre Augen feucht; vielleicht hatte sie gerade solch einen Traum.
Wenigstens lenkten die Unterhaltung und Chlorines Äußeres die Kinder von der unfaßbaren Fährenübersetzung ab.
Das Wohnmobil stand mittlerweile mit allen vier Rädern auf der Wolke. Jim zog die Handbremse an und schaltete den Motor ab. »Wir stehen jetzt auf der Fähre, und alles ist in Ordnung«, gab er bekannt.
»Wir sind an Bord«, murmelte Mary mit zusammengepreßten Lippen.
Die Wolke setzte sich in Bewegung und trug sie langsam über den Abgrund der Spalte. In den Tiefen wurde es dunkel, denn die Nacht war nicht mehr fern. Das schräg einfallende Sonnenlicht erhellte die Flanken des Abhangs, erreichte aber den Boden nicht mehr. Noch waren die Schatten nicht undurchdringlich; am
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